„Jahrestage“ auf der Bühne : Es wird laut vor Jerichow
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Musik ist Trumpf in der Leipziger „Jahrestage“-Inszenierung: Paula Vogel als Marie Cresspahl und der Musiker Martin Wenk (Bandmitglied unter anderem bei Calexico). Bild: Rolf Arnold
Nicht gerade ein Schlummerlied: Am Schauspiel Leipzig inszeniert Anna-Sophie Mahler ihre eigene Adaption von Uwe Johnsons Romanzyklus „Jahrestage“.
Am 29. November 1967 beginnt die Romanfigur Gesine Cresspahl damit, Erinnerungen für ihre zehnjährige Tochter Marie aufzunehmen. Sie bespricht Tonbänder, und daraus werden große Erzählpassagen der „Jahrestage“, jenes vierbändigen Romans, den Uwe Johnson 1983, kurz vor seinem Tod, beendete. Dessen Handlung umfasst Tag für Tag ein Jahr im Leben der 1933 geborenen Gesine Cresspahl, die Mitte der Fünfziger die DDR verlassen hat und in New York als Bankangestellte arbeitet. In Leipzig steht sie auf der Bühne, gespielt von Sonja Isemer mit meist müdem Habitus, in kleinem Weißen und mit Pagenkopfschnitt: eine brave Angestellte, die von ihren Erinnerungen gepeinigt und von der Tochter herausgefordert wird. Und provoziert von zwei moralischen Instanzen: der „New York Times“ und dem Schriftsteller Uwe Johnson. Beide werden im Schauspiel Leipzig von demselben Mann verkörpert: Thomas Braungardt, der schon mit seiner Kleidung signalisiert, dass man von ihm schwarz auf weiß die Wahrheit zugemutet bekommt.
Johnsons Romanzyklus ist ein Meilenstein der deutschen Literatur, zur Jahrtausendwende von Margarethe von Trotta fürs Fernsehen verfilmt, aber bislang noch nicht auf die Bühne gebracht – unfassbar angesichts der Schwemme von Romanbearbeitungen im deutschsprachigen Stadttheater. Dem haben jetzt Anna-Sophie Mahler und ihr Ko-Adapteur Falk Rößler abgeholfen, und Leipzig bot sich dafür nicht nur deshalb an, weil Mahler dort seit der Spielzeit 2021/22 Hausregisseurin ist, sondern auch, weil Johnson in Leipzig studiert und seinen ersten Roman, „Ingrid Babendererde“, geschrieben hat, der bezüglich des Inhalts und Figurenensembles etliches aus den „Jahrestagen“ vorwegnahm, aber erst postum publiziert wurde.
Was ein Viertel des Romans erzählen kann
Am 29. November 1967 sind in den „Jahrestagen“ schon mehr als vier Monate vorbei, aber noch nicht einmal 400 von insgesamt 1700 Romanseiten absolviert. Mit Gesine Cresspahls Erinnerungsarbeit setzt eine Verlangsamung der Handlung ein, auch eine zeitliche Verlagerung. Hat bis dahin neben der amerikanischen Gegenwart die Zwischenkriegszeit im mecklenburgischen Dorf Jerichow Johnsons Erzählen dominiert, werden es fortan Krieg, sowjetische Besatzungszeit und vor allem die repressive frühe DDR sein. Gerade das, sollte man meinen, wäre ein erzählerisches Pfund für die Inszenierung in jener Stadt, die wie keine andere für den Sturz des SED-Regimes steht. Doch der 29. November bezeichnet in Leipzig schon fast das Ende des knapp zweieinhalbstündigen Abends; zur DDR dringen Mahler und Rößler (noch) nicht vor.
Sie haben sich des 1970 erschienenen ersten Teils der „Jahrestage“ angenommen, und da sie offenbar nicht mit belesenem Publikum rechnen, ist der eigentlichen Adaption ein inszeniertes Gespräch über den Roman vorangestellt, in dem sich fünf Akteure Wissenshäppchen zuwerfen: „lebendige Figurengestaltung“, „Johnson gebraucht das N-Wort!“, „am Ende steht man am Strand in Dänemark“, „Musik spielt gar keine Rolle“. Wobei letztere Behauptung sofort korrigiert wird. Erst im Kennergespräch: „Die Beatles, die kommen drin vor. Und Bach, die Goldberg-Variationen.“ Und dann durch das Stück selbst, das Martin Wenk und Michael Wilhelmi als ständig auf der Bühne präsente Musiker begleiten. Nicht nur mit den Goldberg-Variationen oder den Beatles.