„Mefistofele“-Oper in Lyon : Der Teufel sieht aus wie ein Oger
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Bild: Mar Florès Flo
Großer szenischer Aufwand statt Ideen: Der Regisseur Alex Ollé lässt in Lyon Arrigo Boitos Oper „Mefistofele“ in einem Bildersturm untergehen. Ein denkwürdiger Abend.
Ein Prolog im Himmel mit Trompetenfanfaren, Schlagwerkgetöse und Chören himmlischer Heerscharen; Mephisto, der sich in einem höhnischen Scherzo über die Menschen an den Allmächtigen wendet; ein mystischer Chor, der dem Herrn der Hölle den Doktor Faust für ein Spiel der Liebe und der Lust anbietet; eine Walpurgisnacht auf dem Brocken und eine im alten Griechenland: der Ehrgeiz des Musikdichters Arrigo Boito war grenzenlos, als er sich für seine Ideen-Oper „Mefistofele“ bei Goethe bediente. Er wollte das Erhabene und das Schreckliche, das Wirkliche und das Schöne verbinden, um dem italienischen Melodramma eine Form zu geben, die nicht auf die alten Formeln von Rezitativ, Arie und Cabaletta zurückgreift.
Zu den Theaterleitern, die mit George Bernard Shaws Ansicht sympathisieren, dass man auf „La Traviata“ leichter verzichten könne als auf „Mefistofele“, gehört wohl auch Serge Dorny. Für die Inszenierung von Boitos Oper in Lyon hat er den spanischen Regisseur Alex Ollé, Mitglied der Compagnie Fura dels Baus, engagiert, der allerdings über die seit langem praktizierte Dramaturgie der Ausreizung aller szenischen Mittel nicht hinauskommt. Er setzt auf Überwältigung durch einen Gewitter-Sturm von Bildern.
Das Geschehen beginnt in einem in kaltes Grün getauchten Saal, an dessen Tischen, Faust in Reihe eins, experimentiert oder seziert wird und auf denen wenig später das Osterfest als jugendfreie Orgie gefeiert wird. Im Souterrain erscheint der wie ein Haderlump anmutende Mefistofele, der mit dem Herrn die Wette um die Seele des „bizzarro pazzo“ eingeht – des Faust, der alsbald seine Reise durch eine wie von der Muse Absinth inspirierte Welt technizistischer stählerner Konstruktionen (Bühnenbild: Alfons Flores) antritt, von Urs Schönebaum so blendend ausgeleuchtet, dass für den Zuschauer schwer zu entscheiden ist, wohin er seine Augen richten soll, wenn er sich denn nicht entschließt, sie zur Erholung einfach für ein paar Momente zu schließen.
Ob der Gigantismus des szenischen Aufwandes – von den Kosten her wohl nur möglich durch eine Koproduktion mit der Oper Stuttgart – auch der Sinnvermittlung dient, ist schwer zu sagen. Es ist auch nicht erwiesen durch das enthusiastische Jubelgeschrei der außergewöhnlich vielen sehr jungen Zuschauer, die mit den visuellen Reizen alogischer Bilder-Folgen von Video-Clips her vertraut sind. Dagegen spielen in Ollés phantasmagorischer Bilderwelt die moralischen und geistigen Antinomien, die Boitos Figuren verkörpern, kaum eine Rolle, ob nun die Gespaltenheit des Faust („zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“) oder das Böse des Mefistofele („Ich bin der Geist, der stets verneint“). Die Figuren durchreisen keine Welt der Ideen, vielmehr die Stationen eines Panoptikums.
In dem Gast aus der Hölle sieht der Regisseur, wie er im Gespräch sagte, einen Psychopathen, der seinem Opfer Faust, bevor die „Falangi Celesti“, die himmlischen Heerscharen, in sanften Klängen von der Erlösung künden, die Kehle durchschneidet. Boito konzipierte die Titelrolle für einen klangmächtigen Bass mit einer reichen Palette an Farben, mit einem Umfang vom tiefen E bis zum F, den es in der Eingangsarie „Ave Signor“ in einem grellen Glissando, einer Klangfigur aus Hohn und Spott, zu durchmessen gilt. In der zweiten Arie ist Boito der religiösen Vorstellung gefolgt, dass es nicht die vox diaboli gebe, sondern nur den strepitus diaboli, den höllischen Lärm: die Refrains von „Son lo spirito che nega“ enden mit gellendem Gepfeife. Der kanadische Bass John Relya kommt wie ein Oger, wie ein Unhold aus einem Schauermärchen daher. Seine Stimme füllt zwar dröhnend den Raum, bleibt aber der Vermittlung des Textes sehr viel schuldig, lässt gerade den Farbenglanz des Schmutzigen und das Gift des Sardonischen vermissen.
Von einem lyrischen Tenor muss Boito erwartet haben, dass er seine Stimme geschmeidig durch die Region des passaggio – der Durchgangslage – führen kann. Dass dem amerikanischen Tenor Paul Groves die timbralen Qualitäten einer italienischen Stimme fehlen, lässt sich hinnehmen, weniger aber, dass ihm in den Phrasen des Frühlingsgesangs „Dai campi, dai prati“ jeglicher lyrischer Schmelz fehlt und die hohen Töne vom einem Klirrfaktor durchzittert sind. Ganz nach dem Wunsch des Komponisten wurden Margherita und Elena – das büßende Mädchen und die idealische Schönheit – einer Sängerin anvertraut: Evgenia Muraveva vom Petersburger Marinsky-Theater. In dieser Doppelrolle war sie überfordert. Margheritas „L’altra notte in fondo al mare“ – die Klage über die Tötung ihres Kindes – blieb sie sowohl den Ton der Trauer schuldig als auch das Filigran der Triller; und die mit Pressphonation erkämpften Forte-Töne sind Indikatoren gefährdender Überanstrengung.
Denkwürdig wurde der Abend aber durch den überwältigend singenden Chor – wahrhaft cherubinisch in den wie von fern herbeiklingenden Himmelsmusiken und mit kontrollierter Klangausladung in den Massenszenen. Ebenso eindringlich das Orchester, sowohl in den wie aus dem Nichts kommenden Klängen des Prologs oder des „Sabbo classico“ wie bei den klanglichen Bruitismen. Der junge Chefdirigent Daniele Rustioni zeigte eindrucksvoll, was sich mit seinen Musikern erreichen lässt.