Zensierte Gandhi-Biographie : Man schütze den Mahatma vor seinen Freunden!
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Hatte er die „Schwäche” Homosexualität? Mahatma Gandhi, Indiens „Vater der Nation” Bild: AFP
Im indischen Bundesstaat Gujarat ist die Gandhi-Biographie des Amerikaners Joseph Lelyveld verboten worden, die Zentralregierung will nachziehen. Das Verbot zeigt: Indien verwechselt Scham mit Pietät.
Biographien über M. K. Gandhi, genannt der „Mahatma“, haben in den letzten Jahrzehnten innerhalb der kaum überschaubaren Gandhi-Literatur ständig neue Akzente gesetzt. Das beweist, wie relevant auch heute noch dessen Leben und Werk ist. Gandhi gilt in Indien als „Vater der Nation“, er besitzt offiziellen ikonographischen Status, auch wenn man zugibt, weder auf Regierungsebene noch im gebildeten Volk der Philosophie und Lebensweise Gandhis zu folgen. Indische Kritiker sparen nicht mit Vorwürfen, die seine politischen Fehler, aber auch so manche Schrullen seines persönlichen Lebens betreffen. Doch wenn ein Ausländer Mahatma Gandhi angreift, geht das politische Establishment auf die Barrikaden. So wie gerade wieder geschehen.
Der „New York Times“-Journalist und Pulitzer-Preisträger Joseph Lelyveld schrieb eine neue Biographie („Great Soul. Mahatma Gandhi and his Struggle with India“), in der er unter anderem Briefe an den deutschen Juden Hermann Kallenbach zitiert, mit dem Gandhi sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Südafrika anfreundete. Einige zitierte Briefstellen lassen genug Interpretationsspielraum für die Annahme, die Verbindung sei homosexuell gewesen. Lelyveld selbst distanziert sich von dieser Lesart. Doch die britische Boulevardzeitung „Daily Mail“ verknüpfte den Namen Mahatma Gandhi mit dem Begriff Homosexualität, und schon war das Unglück geschehen. Ohne das Buch gelesen zu haben - es ist in Indien noch nicht ausgeliefert worden -, hat es die Regierung von Gujarat, der Heimat Gandhis, bereits verboten; die Zentralregierung in Neu-Delhi erwägt Ähnliches und will dazu ein Gesetz gegen die Verunglimpfung von Mahatma Gandhi verabschieden. Die parteipolitisch orientierte „Rettet Gandhi“-Maschinerie läuft auf vollen Touren.
Heroisierte Gestalt ohne Schwächen
Die zwei bedeutenden Enkel Gandhis, Gopalkrishna und Rajmohan, sprechen sich gegen ein Buchverbot aus; die Editorials sämtlicher großen englischen Tageszeitungen verwerfen die Idee von Bücherverboten an sich. Es besteht ohnehin nicht die Gefahr öffentlicher Unruhe, anders als im Fall von Salman Rushdies „Satanischen Versen“. Der Roman war in Indien verboten worden, weil die Regierung hinduistisch-muslimische Zusammenstöße befürchtete.
Die gerade in sexuellen Fragen konservative indische Gesellschaft kann es nicht ertragen, dass Abweichungen vom Normverhalten an die Öffentlichkeit kommen. Das Gesetz gegen Homosexualität ist inzwischen gelockert; in den großen Städten können sich homosexuelle Gruppen ohne besondere Gefahr zeigen; Filme behandeln das Thema immer häufiger. Doch dass die heroisierte Gestalt des Mahatma solche „Schwächen“ zeigen könnte, gilt weiterhin als Tabu.
Fragwürdige Empörung
Als ein amerikanischer Indologe vor einigen Jahren den Hindu-Heiligen Ramakrishna als Homoerotiker beschrieb, versetzte das die indische Öffentlichkeit bis hin zum Parlament in Aufruhr. Indiens bekanntester Künstler, M. F. Husain, stellte einmal Hindu-Göttinnen nackt dar, daraufhin wurde er von Hindu-Radikalen angegriffen und von den Gerichten so stark drangsaliert, dass der über Neunzigjährige seither in Dubai und London wohnt und zur Beschämung indischer Intellektueller die Staatsbürgerschaft gewechselt hat. Sein „Vergehen“ war, dass er - als Muslim - Hindu-Göttinnen auf „respektlose Weise“ gemalt hatte.
Will man also Gandhi „verbieten“?, fragt die Presse in Anbetracht der fragwürdigen Empörung sarkastisch. Folgt man der „Hindustan Times“, ist die tatsächliche Frage jedoch, wann die indische Gesellschaft endlich die Reife zeige, neue Ideen und Informationen zunächst anzunehmen, um sie im Anschluss zu prüfen und zu diskutieren. Erst dann könne man sie, falls notwendig, verwerfen.
Und ebenso entscheidend: Wann wird die Gesellschaft endlich das Gefühl der Minderwertigkeit, eine Folge der Kolonialzeit, ablegen und genügend Selbstvertrauen zeigen, dass sie ihre Stärken und Schwächen offen darlegt - auch gegenüber dem Ausland?