Yvonne Hofstetter: „Sie wissen alles“ : Wir und unsere virtuellen Zombies
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Haben Roboter bald Rechte wie Menschen? Der Laufroboter „Cheetah“ vom MIT hat den Geparden zum Vorbild - und den Gegner im Auge. Bild: Picture-Alliance
Der Fehler liegt nicht im System, sondern im Menschen: Buchautorin Yvonne Hofstetter weiß, mit welchen rechnerischen Methoden Big Data die Solidargemeinschaft aushöhlt.
Das Problem mit Big Data, dem Geschäft und der Politik mit großen Zahlen, beginnt hier: Fast eine Million Menschen haben legalen Zugriff auf die Wissensbestände des amerikanischen Geheimdienstes NSA. Jeder amerikanische Polizist kann über Kontaktbeamte auf die Informationen zugreifen. Dennoch wurde über die Spähprogramme lange nur gemunkelt. Der Whistleblower Edward Snowden vermochte daran viel, aber nicht alles zu ändern. Er verriet, außer Namen von Programmen und Projekten, wenig. Der Bundesjustizminister konnte jüngst freimütig behaupten, dass man nicht politisch handeln könne, weil Snowden nichts bewiesen habe. Es blieb also bei Vermutungen darüber, was die NSA wisse, wie wahr ihre Informationen seien und wie mächtig sie durch sie wurde.
Yvonne Hofstetter, Big-Data-Unternehmerin und Juristin, hat diese Diskussion verfolgt. Ihr soeben erschienenes Buch „Sie wissen alles“ beginnt sie mit rabiaten Thesen - allerdings nur, um den Leser auf Touren zu bringen. Wir alle seien „gläsern, erpressbar und manipulierbar“ geworden. Im „Informationskapitalismus“ begegne eine neue Elite, die mit Daten-Macht und -Reichtum die Kontrolle übernehme, einer gefährlichen bürgerlichen Gleichgültigkeit. Es gehe um „Informations-, Gefühls- und Verhaltenskontrolle“, der wir und unser Gemeinwesen zum Opfer fielen. Die Ehe von Demokratie und Marktwirtschaft werde aufgelöst, die Diktatur übernehme.
Nach der Aufregung wird es technisch
Diese werde nicht mehr staatlich sein, sondern „imperiale Organisationen“ würden individuelle Schicksale bestimmen. Beispielhaft dafür sei Googles „unstillbarer Hunger nach Schlüsseltechnologien“, das Unternehmen entwickele bahnbrechende Daten-Technologien, nun folgten Roboter, Drohnen und die künstliche Intelligenz, die beides miteinander verknüpfe. Es ist eine Revolution per Mathematik, ihre „Triebfeder ist die Finanzialisierung“ von allem.
Die Menschen hatten „für einige Jahre das Internet zum Mailen, Bloggen oder Onlineshopping gekapert“, jetzt übernähmen es wieder die Maschinen. Im Internet der Dinge arbeiteten „verteilte Software-Agenten“ in einer selbstorganisierten „Parallelwelt, die kein Programmierer je programmiert oder getestet hat“. Nur vordergründig arbeiteten sie für uns. Jeder kleinen Annehmlichkeit stehe eine gewaltige Ausbeutung gegenüber. Schon vor fünf Jahren habe EU-Kommissarin Meglena Kuneva von personenbezogenen Informationen als Öl und Währung einer neuen Industrie gesprochen. Ihr Zeitalter sei nun angebrochen.
Wenige Seiten später allerdings bittet die Autorin ihre Leser weiterzulesen, auch wenn es langweilig sei. Einmal erkundigt sie sich sogar, ob man schon habe gähnen müssen. Die Aufregung der ersten Seiten ist in der Tat verflogen. Die Autorin ist mit ihrem Leser in den Maschinenraum der Informationsökonomie hinabgestiegen. Langweilig wird es dort aber nicht, auch weil sich Hofstetter dafür entschieden hat, manches in literarischer Form zu erzählen.
Autonome Systeme auf dem Vormarsch
So begleitet sie Florian Mayhoff, einen jungen Datenwissenschaftler, der einen Arbeitsauftrag erhielt und die Revolution auslöste. Während des ersten Golfkriegs nahmen Amerikas Streitkräfte erstmals einen gesamten Luftraum unter Beobachtung und erstellten Lagebilder in Echtzeit. Das neue Modell-Wissen von der Welt führte jedoch in eine Katastrophe. Im Juli 1988 schoss das amerikanische Kriegsschiff „USS Vincennes“ ein Passagierflugzeug ab. Der Fehler wurde im System gesucht, aber beim Menschen gefunden.
Die Soldaten verstanden ihre neuen Computer als Werkzeug, in dessen Regelkreisläufe und Steuerungsmechanismen sie mit ihren Strategien und Intentionen eingegriffen. Sie wurden zur Schwachstelle. Nie wieder sollte eine kritische Entscheidung unter Stress getroffen werden. Die Soldaten wurden degradiert, die Maschinen wurden weiterentwickelt. Sie sollten Informationen nicht länger nur ermitteln, sondern mit ihr arbeiten - entscheiden, überwachen und nachsteuern. In der Luftraumüberwachung gelang das zügig. Yvonne Hofstetter dient sie als historisches Beispiel und als Metapher für die Gesellschaft der Gegenwart.