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Worstseller 2006 : Der Gammelbuchskandal

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Es gibt viele gute Bücher, die sich erstaunlich schlecht verkaufen. Verdrängen die Bestseller den Rest der Literatur? Wir haben renommierte deutsche Verlage nach ihren liebsten Ladenhütern des Jahres 2006 gefragt. Die Antwort: zehn lesenswerte Worstseller.

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          Das am schlechtesten verkaufte Buch aller Zeiten fand nur alle fünf Monate einen Abnehmer. Es dauerte 191 Jahre, bis das letzte Exemplar der ersten Auflage verkauft war. Daniel Keel vom Diogenes Verlag wird die Geschichte vermutlich kennen. Allerdings darf man vermuten, daß Keel sie ganz anders erzählen würde, nämlich so: Der längste Atem, den je ein Verlag aufgebracht hat, um eine Erstauflage loszuschlagen, währte 191 Jahre. Dann aber waren alle Exemplare verkauft. Ein Rekord, eine Erfolgsgeschichte, ein Musterbeispiel an Ausdauer und Hartnäckigkeit. So muß heute ein Verleger denken, der sich den Gegebenheiten nicht beugen will. Denn wer sich den Gegebenheiten beugt, macht heute keine Bücher mehr.

          Hubert Spiegel
          Redakteur im Feuilleton.

          Die Geschichte der Literatur ist reich an Mißerfolgen, das ist nichts Neues. Stendhals Klassiker „Über die Liebe“ verkaufte sich in den ersten elf Jahren siebzehnmal, auf die selbe klägliche Zahl brachte es die französische Ausgabe von Becketts „Murphy“. Die Nachwelt hat es dann gerichtet. Aber verlassen sollte man sich darauf besser nicht: Von allen im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts veröffentlichten Romanen soll heute angeblich nur noch etwa ein halbes Prozent erhältlich sein.

          Es sind Kannibalen am Werk

          Der Verdrängungsprozeß ist gewaltig. Jede Neuerscheinung ist ein versuchter Massenmord an den literarischen Vorgängern ebenso wie an den Zeitgenossen. Etwa neunzigtausend Neuerscheinungen mußte der deutsche Buchmarkt in diesem Jahr verkraften, davon fielen über zwölftausend Titel in den belletristischen Bereich. Wer soll das alles lesen? Welcher Buchhändler soll das noch überblicken und die Spreu vom Weizen trennen, wie es seine ratlos in den Laden stolpernden Kunden von ihm erwarten? Daß Schätzungen zufolge von allen jemals geschriebenen und bei Verlagen eingereichten Manuskripten nur etwa ein halbes Prozent tatsächlich als Buch erschienen ist, kann da nur ein schwacher Trost sein: Millionen von Büchern sind nicht erschienen, wie schön! Aber Hunderttausende von ihnen verstopfen unsere Regale. Kein Zweifel: Der Literaturbetrieb frißt seine Kinder.

          Es sind Kannibalen am Werk. Die Starken fressen die Schwachen. Das heißt nicht, daß die Bösen die Guten vertilgen, das wäre zu einfach. Die Behauptung, daß kommerzieller Erfolg ein sicheres Zeichen für mangelnde literarische Qualität sei, ist zwar oft bestätigt worden. Dennoch gehört sie zusammen mit dem Umkehrschluß zu den dümmsten Vorurteilen des Literaturbetriebs: Kein Buch gewinnt an Qualität, nur weil es nicht gekauft wird. Wer das insgesamt zweifellos eher bescheidene literarische Niveau der Bestseller beklagt, hat zwar recht, verfehlt aber die entscheidende Dimension des Phänomens. Es geht um etwas anderes: Was nicht auf den Bestsellerlisten steht, wird nicht wahrgenommen. So ist ein literarisches Prekariat entstanden, zu dem Klassiker der Weltliteratur ebenso gehören wie Debütanten.

          Die Rebarbarisierung des Buchmarkts

          Als der Philosoph Hans Blumenberg 1982 im Magazin dieser Zeitung Marcel Prousts Fragebogen ausfüllte, nannte er als größtes mögliches Unglück: „Rebarbarisierung: immer weniger Leser für immer mehr Bücher.“ Heute ist Blumenbergs Albtraum längst wahr geworden: Der Buchmarkt ist heillos verstopft, und die Abhängigkeit der Verlage von einer verschwindend kleinen Zahl von Bestsellern ist bis ins Unerträgliche angewachsen.

          Manchmal ist jedoch selbst mit einem Bestseller kaum noch etwas zu verdienen: Wer für ein neues Buch eines internationalen Starautors wie etwa Isabel Allende oder Michel Houellebecq ein paar hunderttausend Euro Vorschuß gezahlt hat, ist anschließend gezwungen, noch mehr Geld auszugeben - für die Werbung für das teure Buch. Unter diesen Umständen kann es durchaus vorkommen, daß 150.000 verkaufte Exemplare kaum mehr als die Investitionskosten einspielen.

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