Seine blaue Blume
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Martin Walser am Bodensee, am 13. März 2012, kurz vor seinem 85. Geburtstag Bild: Frank Röth
Warum weigert sich Martin Walser, Träume in kognitives Kleingeld zu wechseln? Er ist eben ein Romantiker, der seine nächtlichen Geheimnisse hütet.
Mit dem Ur-Traum der deutschen Romantik, dem Suchen und Finden der blauen Blume, beginnt Novalis’ Roman „Heinrich von Ofterdingen“ von 1802. Er führt zunächst ins Innere einer bescheidenen Behausung. Die Eltern schlafen schon. Der Sohn, es ist der zwanzigjährige Heinrich, liegt noch wach und sinnt dem Besuch eines geheimnisvollen Fremden nach, der die Familie tagsüber mit seinen Erzählungen in den Bann geschlagen hat – besonders die blaue Blume, von der immer wieder die Rede war, kann Heinrich nicht vergessen. Darüber fällt er in unruhigen Schlaf und wirres Träumen. Erst, als der Morgen dämmert, werden die Ruhe tief und der Traum klar. Wald, Felsenschlucht, Höhlengang – ins Weltinnere führt der Weg. In der Höhle ein „Springquell“, sich sammelnd in einem „großen Becken“. Heinrich legt die Kleider ab, steigt hinein, erlebt eine Entrückung in „unbeschreibliche Begebenheiten“, nimmt „nie gesehene Bilder“ erotischer Verzauberung wahr: Das flutende Wasser, heißt es, „schien eine Auflösung reizender Mädchen, die dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten“. Schließlich sieht er sie vor sich: „die blaue Blume“, die er „mit unnennbarer Zärtlichkeit“ betrachtet. Inmitten der Blüte: ein zartes Gesicht, das einer jungen Frau.
In diesem Moment weckt ihn die Mutter. Dem Sohn zuliebe hat der Vater, ein wackerer Handwerker, bisher keinen Lärm gemacht. Jetzt grummelt er: Während Mutter und er „wachen und arbeiten“, habe der Sohn wohl im Schlaf „die großen Werke der weisen Vorfahren“ studiert. Sofort aber lenkt er wieder ein: Er wisse schon, dass „ein tüchtiger Gelehrter“ auch die Nächte nutzen müsse. Worauf sich zwischen Vater und Sohn ein Disput über Sinn und Unsinn des Träumens, aber auch über Nutzen und Nachteil der Traumdeutung entspannt. „Träume sind Schäume“, sagt der Vater, „mögen auch die hochgelahrten Herren davon denken, was sie wollen.“ Ganz im Geist der Aufklärung fügt er hinzu: „Die Zeiten sind nicht mehr, wo zu den Träumen göttliche Gesichte sich gesellten . . . In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt.“
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