Schriftsteller Martin du Gard : Niemand hat uns mehr zu erzählen
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Roger Martin du Gard ist im deutschen Sprachraum einer der unbekanntesten Nobelpreisträger, keine der wenigen alten Übersetzungen seines umfangreichen Werks ist lieferbar. Bild: Picture-Alliance
Der französische Autor Roger Martin du Gard ist ein in Deutschland vergessener Nobelpreisträger. Es ist Zeit, ihn zu entdecken: mit der beklemmenden Broschüre „Maumort und die Nazis“.
Roger Martin du Gard bekam den Literaturnobelpreis 1937 zugesprochen, zum ungünstigsten Zeitpunkt für deutsche Leser. Zwei Jahre zuvor war zwar von keiner Geringeren als Eva Mertens, der künftigen deutschen Stimme von Marcel Proust und damaligen Assistentin von Ernst-Robert Curtius, dem wichtigsten literarischen Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland, ein Roman des 1881 geborenen französischen Schriftstellers übersetzt worden: „Kleine Welt“, im Original von 1933 „Vieille France“. Die Rede vom alten Frankreich war von Martin du Gard keineswegs nostalgisch gemeint, sondern moralisch vernichtend: In seiner Schilderung eines einzigen Sommertages in einem Provinznest tun sich psychologische Abgründe auf. Über- und verkommen ist dieses Frankreich.
Das war im nationalsozialistischen Deutschland gut gelitten, doch 1936 fasste Hitler die Regierungsübernahme in Paris durch die Volksfront aus Sozialisten und Kommunisten als ideologische Kampfansage auf, und die Ehrung eines französischen Autors im Jahr danach wurde als politische Parteinahme des Nobelpreiskomitees gewertet, zumal Martin du Gard in der Begründung gepriesen wurde „für die künstlerische Kraft und Wahrheit, mit der er sowohl menschlichen Zwiespalt als auch grundlegende Aspekte des gegenwärtigen Lebens in seinem Romanzyklus ,Les Thibault‘ dargestellt hat“. Die achtteilige Familiensaga hatte er 1922 begonnen, und 1937 war die Handlung im August 1914 angelangt, also beim Kriegsausbruch. Martin du Gard, seinerzeit selbst Soldat über die ganze Dauer des Kriegs hinweg, ließ als Erzähler keinen Zweifel an seiner pazifistischen Haltung. Seine deutschsprachige Publikationsgeschichte hatte sich damit im „Dritten Reich“ erledigt.
Nachwirkende Ressentiments aus der NS-Zeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es nicht viel besser. Erst in Martin du Gards Todesjahr 1958 erschien im Wiener Zsolnay-Verlag wieder eine neue Übersetzung, abermals von Eva Mertens und nun endlich die seines Hauptwerks „Die Thibaults“, aber sie blieb in der Bundesrepublik ohne große Wirkung – die Ressentiments aus der NS-Zeit gegen den Autor wirkten noch nach; als Rowohlt 1960 eine Taschenbuchausgabe der „Thibaults“ publizierte, wurden die dem Ersten Weltkrieg gewidmeten Teile des Zyklus weggelassen. In der DDR dagegen wurde er mehrfach komplett nachgedruckt. Trotzdem ist Roger Martin du Gard heute im deutschen Sprachraum einer der unbekanntesten Nobelpreisträger, keine der ohnehin wenigen alten Übersetzungen seines umfangreichen Werks ist lieferbar.
Nun aber gibt es eine neue, und man kann nicht umhin, sie als Großtat zu feiern, obwohl es sich um ein ganz kleines Buch handelt. Im Materialverlag, einer vor allem Lehr- und Forschungszwecken dienenden unkommerziellen Einrichtung der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HFBK), ist vor wenigen Wochen in Winzauflage als preiswerte Broschüre „Maumort und die Nazis“ erschienen: die deutsche Erstübersetzung eines Teils des Fragment gebliebenen Großromans „Le lieutenant-colonel de Maumort“, an dem Martin du Gard in den letzten achtzehn Jahren seines Lebens gearbeitet hat. Der Vergleich mit dem 1983 von André Daspre in der französischen Klassikerreihe „Pléiade“ edierten Romantorso könnte grotesk erscheinen: 84 winzige deutsche Seiten in großer Drucktype gegenüber mehr als tausend engbedruckten im doppelt so großen Format der 2008 nochmals revidierten Ausgabe des Verlags Gallimard. Aber in diesen 84 Seiten steckt für Deutschland eine Sensation.