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„Untergang des Abendlandes“ : Der Falter als geflügelter europäischer Zwergchinese

Oswald Spengler, 1880 bis 1936. Bild: Bettmann Archive

Vor hundert Jahren erschien Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ – ein nicht ganz ungefährliches Buch.

          5 Min.

          Die Katastrophe, die er prophezeite, überholte ihn im Augenblick seines Erscheinens. Als Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, in einem kleinen Wiener Verlag publiziert, im September 1918 in die Buchhandlungen kam, stand das deutsche Westheer noch tief im Inneren Frankreichs. Vier Wochen später war es in vollem Rückzug über die Grenze, und nach weiteren vier Wochen war der Kaiser in Berlin gestürzt, die Republik ausgerufen, und in den deutschen Städten marschierte die proletarische Revolution. Und je mehr die Lage sich zuspitzte, desto mehr Käufer fand Spenglers Buch. Als im folgenden Winter an mehreren Orten der Bürgerkrieg ausbrach, wurde der „Untergang“ zum Buch der Stunde.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          Natürlich war dies ein anderer Untergang als der, den Spengler gemeint hatte. Er redete vom Erlöschen der Kultur in der Zivilisation, vom Cäsarismus der letzten Tage, vom Triumph der Technik über die Kunst. Aber die Leser, die Spenglers Studie zum Bestseller machten, fanden darin dennoch genau das, was sie suchten. Der „Untergang des Abendlandes“ gab ihrem täglichen Albtraum einen Sinn. Die Umwälzungen, die sie erlebten, wurden von Spengler zur historischen Notwendigkeit erklärt. Die „faustische Seele“ Westeuropas, so verkündete er es dem staunenden Publikum, habe ihr Lebenswerk vollendet, das Repertoire ihrer Möglichkeiten erschöpft, sie sei am gleichen Punkt wie das Rom der Triumvirate, das Bagdad der Kalifen und das China der Ch’in-Kaiser angekommen. Nun gebe es nur die Wahl, am unvermeidlichen Kampf um die kontinentale Herrschaft aktiv oder passiv teilzunehmen, als Volk Cäsars oder als Sklavenvolk. Bislang, so Spengler, habe man sich vielerlei Vorstellungen von der Zukunft machen können, nun aber gehe es bloß noch darum, „das Notwendige oder nichts“ zu tun.

          Abstand zum rechten Spektrum

          Für die Zeitgenossen, die allein im ersten Jahr der Weimarer Republik dreimal zur Wahl gingen, konnte es kaum einen größeren Kontrast zu ihrem Alltag geben. Dennoch traf Spenglers Schicksalsrhetorik auf offene Ohren, denn sie versöhnte das Großmachtdenken, dem weite Kreise des deutschen Bürgertums immer noch anhingen, mit dem Schock des verlorenen Weltkriegs. Aber die Begeisterung der Leserschaft hatte ihren Zenit bald überschritten. Als 1922 bei C. H. Beck der zweite Band des „Untergangs“ erschien, der das Geschichtskonstrukt des ersten systematisch erweiterte, war die erste Auflage von fünfzigtausend Exemplaren rasch vergriffen, doch danach stockte der Verkauf.

          Macht sich sein Bild dazu: Simplicissimus-Zeichner Olaf Gulbransson.
          Macht sich sein Bild dazu: Simplicissimus-Zeichner Olaf Gulbransson. : Bild: Picture-Alliance

          Die verbleibenden vierzehn Jahre seines Lebens verbrachte Spengler damit, sein Hauptwerk in Vorträgen, Essays und Streitschriften auszulegen. Eine Zeitlang liebäugelte er mit den Nationalsozialisten, bevor er sich in seinem letzten Buch „Jahre der Entscheidung“ von ihnen distanzierte. Aber auch zu Monarchisten, Nationalbolschewisten und anderen Gruppen des rechten Spektrums hat Spengler, wenn es darauf ankam, immer Abstand gehalten. Den Cäsarismus, den er predigte, wollte er nicht in einem Parteimann oder Stahlbaron verwirklicht sehen. Am ehesten entsprach der Kraftzwerg Mussolini seinem Führerbild. Sein Tod 1936 in München ersparte Spengler die Schmach, sein Idol fallen zu sehen. Das italienische Kolonialreich, das er prophezeite, zerbrach schon zu Beginn jenes Krieges, den er, wie die meisten antidemokratischen deutschen Intellektuellen, herbeigesehnt hatte.

          Ein möglichst grandioses Erlöschen

          Trotz solcher Widerlegungen durch die Geschichte ist der Geschichtsphilosoph Spengler nicht vergessen worden. Im Gegenteil, sein schillerndes Opus scheint aktueller denn je. Das hat mit dem zentralen Begriff zu tun, um den Spenglers Denken kreist: „Kultur“. Bei Spengler ist alles Kultur, die Musik Bachs ebenso wie die Kreiseltheorie von Euler, der Marienglaube und die doppelte Buchführung, die Kathedrale und die Kabinettkriege, Golgatha und Waterloo. Und weil alles Kultur ist und eben nicht Politik, Technik, Ware, Werkzeug, Wissen, ist auch nichts verhandelbar, weder in den Kulturen selbst noch zwischen ihnen. Keine der sieben Hochkulturen, die Spengler seit Anbeginn der Zeiten aufblühen und vergehen sieht – eine achte, die „russische“, dämmert unscharf am Horizont herauf –, hat je die andere verstanden, weil jede nur aus ihrem eigenen Gesichtskreis, ihrer je eigenen „Seele“ heraus in die Welt schaut.

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