
Brockhaus und Wikipedia : Der Untergang des Lexikons
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Da war das Lexikon noch ein Gigant: Installation des Brockhaus-Verlages auf der Buchmesse in Frankfurt 2005 Bild: dpa
Brockhaus hat seine letzte Verlagshandlung getan. Sein Ethos ist in die Gegenwart gerettet worden, das gedruckte Lexikon dagegen nicht. Ist das zu bedauern? Für Bibliophile durchaus, für Wissensdurstige nicht. Wikipedia bietet mehr.
Es war der heroischste Anfang der Welt: Friedrich Arnold Brockhaus machte den Namen seines 1805 gegründeten Verlags bekannt, als er acht Jahre später, unmittelbar vor der Völkerschlacht bei Leipzig, in der nahen Stadt Altenburg die Zeitschrift „Deutsche Blätter“ herausbrachte, die unter dem Eindruck des Kriegsgeschehens zur täglichen patriotischen Nachrichtenquelle wurde. Der Ruhm der „Deutschen Blätter“ für ihre Berichterstattung und Hintergrundartikel übertrug sich danach auf das eigentliche Hauptprodukt des Verlags, ein Lexikon, das Brockhaus 1810 von einem anderen Anbieter übernommen, dann zu Ende geführt und 1811 unter eigenem Namen neu begonnen hatte.
Die Befreiungskriege unterbrachen dieses Vorhaben nach vier Bänden, doch Brockhaus setzte seine Redakteure nun einfach als Kriegsberichterstatter ein, und als die Kämpfe vorbei waren, hatte der Verlagsname seinen legendären Ruf als Informationsquelle, die Redakteure nahmen die Arbeit am Lexikon wieder auf, und der „Brockhaus“ stieg in der Folge zum beliebtesten und berühmtesten Nachschlagewerk im deutschen Sprachraum auf. Sein Name war gleichsam das Synonym für Lexika.
Heute spricht man nur noch von Wikipedia, und Brockhaus ist tot. Nachdem es nach Abschluss der 21. Auflage im Jahr 2006 keine Neuausgabe mehr gab, ist die Lexikonredaktion in diesem Jahr aufgelöst worden. Eine Epoche der Buch- und Wissensgeschichte ist zu Ende.
Unterlegen im Wettstreit mit Wikipedia
Das hat niemanden mehr überrascht als Brockhaus selbst. Noch im Verlagsjubiläumsjahr 2005 brachte der Verlag eine opulente zweibändige Festschrift heraus, die vom „brockhausschen Geist als Pfeiler für die Zukunft“ sprach. Das letzte Bild in der Festschrift war eine Karikatur aus der Jubiläumszeitung von 1905 zum damaligen hundertsten Verlagsgeburtstag. Sie blickte auf die Lexikonherstellung im Jahr 2005 voraus und zeigte eine gigantische Druckanlage, um die sich eine Handvoll müßiger Mitarbeiter versammelt hat. Der Text dazu lautete: „Manuskript wird vom Auto-Redakteur geliefert, dann desinfiziert und in die Maschine geworfen, welche alles andere selbständig bewirkt.“ Das war hellsichtig, aber die reale Automatisierung der Wissensproduktion machte Brockhaus den Garaus.
Kein Wort wurde in der Festschrift von 2005 über die damals bereits seit vier Jahren existierende Netzkonkurrenz durch Wikipedia verloren. An deren Einträgen arbeitet keine Redaktion, auch keine automatische, sondern die anonyme Gemeinschaft der Netzbenutzer. Brockhaus hielt es für unmöglich, dass seine lexikalische Kompetenz dadurch geschmälert werden könnte, aber noch die besten Redakteure erwiesen sich als unterlegen im Wettstreit gegen die versammelten Einzelinteressen von vielen Hobby- und einigen Fachautoren, die in der Wikipedia mit Lust ihren Spezialthemen frönen können und sich auch noch selbst kontrollieren und korrigieren.
Stärke und Schwäche zugleich
1,7 Millionen Artikel allein in der deutschen Ausgabe von Wikipedia übertreffen jedes gedruckte Nachschlagewerk. In der vergangenen Woche wurde sie täglich mehr als 20 Millionen Mal benutzt. Sechstausend regelmäßige Beiträger hat die deutsche Wikipedia nach eigenen Angaben, fast zwei Millionen Menschen haben bislang weltweit an den verschiedensprachigen Ausgaben mitgearbeitet, alle unbezahlt. Ein spätkapitalistischer Ausbeutungstraum, dafür aber auch gratis für alle Benutzer.
Dieses kollektive Konzept der Wissensgenerierung ist Stärke und Schwäche des Wikipedia-Systems zugleich: Kein Eintrag ist fixiert, laufend kann aktualisiert, ergänzt, gestrichen werden. Nach anfänglichem Wildwuchs und Meinungsschlachten um die Deutungshoheit bei heiklen Einträgen, die sich bisweilen schneller veränderten, als man sie lesen konnte, wurden einige Hürden errichtet. Zum Beispiel sind nun Quellennachweise vorgeschrieben, bei auffällig häufigen Änderungen werden die Leser darauf hingewiesen, im Extremfall kann ein Eintrag zeitweise für weitere Bearbeitung gesperrt werden. Um darüber zu entscheiden, sind einzelne Beiträger von ihren Kollegen zu Administratoren gewählt worden. An der Universität in Frankfurt (Oder) hat sich mit Wiki-Watch eine Arbeitsgruppe gebildet, die Stichproben aus der Wikipedia überprüft.
Eine letzte Verlagshandlung
So ist das Ethos von Brockhaus doch in die Gegenwart gerettet worden, das gedruckte Lexikon dagegen nicht. Ist das zu bedauern? Für Bibliophile durchaus, für Wissensdurstige nicht. Wikipedia bietet mehr.
Die Namensrechte an Brockhaus sind schon vor Jahren verkauft worden. Auf der Homepage können frühere Käufer der Lexika noch ergänzende Online-Inhalte abrufen, ansonsten ist die Seite tot. Es ist das kläglichste Ende der Welt: Als letzte Verlagshandlung wurde gerade die Einstellung des Remissionsbetriebs vollzogen. Jetzt kann der Buchhandel unverkauft gebliebene Lexikonbände nicht einmal mehr zurückgeben.
Allerdings ist es auch um die Verlässlichkeit, die der Brockhaus symbolisierte, geschehen. Zur letztgültigen Instanz, wie es das gedruckte Buch mit seiner Redaktion gewesen ist, taugt im Internet mit dessen partizipativem Modell nichts mehr.