Sammelband über „Identitäre“ : Die Vermessung der völkischen Welt
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Ein „Identitärer“ aus Frankreich schreibt: „Wir müssen unsere eigene Kultur schaffen, denn unsere Werte sind nicht die des Systems, und wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, um diese unsere eigene Kultur zu verbreiten. Ich appelliere dabei an alle von uns, einen Baustein zu dem Gebäude beizutragen, das wir errichten wollen. Sei es als freier Filmemacher, als freier Sänger oder meinetwegen als freier Tätowierer oder als freier Modedesigner.“
Intelektuelles Selbstverständnis
Die Aktionen der „Identitären“ leben von der Provokation. Wenn „Identitäre“ etwa ankündigen, künftig Vormundschaften für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge übernehmen zu wollen, und das staunende Publikum in Wallung gerät, man möge die Kinder retten, ist das Ziel erreicht. Es ist kein Fall bekannt, in dem ein „Identitärer“ tatsächlich eine Vormundschaft beantragt hat. An der Oberfläche, in ihren Videos und Twitter-Profilen, wollen die „Identitären“ harmlos wirken. Aber schon ihr Logo offenbart das soldatische Selbstverständnis, es ist der Buchstabe Lambda, das Zeichen der antiken Spartaner. Konkret beziehen sich die „Identitären“ auf den Hollywoodfilm „300“, der die Schlacht der Spartaner gegen die Perser bei den Thermopylen zum Thema hat.
Dem antiken Bericht nach stellten sich damals dreihundert spartanische Kämpfer dem persischen Heer entgegen – ohne die Aussicht auf einen Sieg. Schon diese Anekdote sagt viel: „Identitäre“ wollen Intellektuelle sein, dazu passte die Berufung auf Herodot. Aber dahinter steht eine Comicverfilmung aus Hollywood. Und die Erinnerung stellt sich ein: Auch Göring verwies während der Schlacht um Stalingrad auf jene bei den Thermopylen.
Wie ihre Filmhelden wollen sich die „Identitären“ den Migranten in den Weg stellen, um die ethnische Homogenität ihrer Heimat zu verteidigen. Wer so denkt, landet im Jargon der Nationalsozialisten. „Unser Land, unser Blut, unsere Identität“, lautet einer der Slogans der „Identitären“. „Blut und Boden bilden den Bodensatz dieser Bewegung“, schreibt Speit. Der zentrale Begriff der „Identitären“ ist jener des „Ethnopluralismus“. Was nach ethnischer Vielfalt klingt, meint das Gegenteil, nämlich eine Lebensraumtheorie, nach der alle Ethnien säuberlich getrennt bleiben sollen. Kulturtheoretisch wird exerziert, was die Nationalsozialisten mit „Reinrassigkeit“ meinten. Einige „Identitäre“ haben, passend dazu, eine Vergangenheit in der NPD, in der rechtsextremen Wiking-Jugend oder der Neonazi-Rockszene.
Im Kapitel, das von den Überschneidungen mit der AfD handelt, werden viele Fälle angeführt, in denen entweder AfD-Politiker oder Vertreter der Parteijugend „Junge Alternative“ mit den „Identitären“ fraternisieren. Zitiert wird der Bremer Verfassungsschutzleiter Dierk Schittkowski: „Das sind inzwischen ganz schön viele Einzelfälle.“ Das Dilemma ist eben doch noch größer als bei Heisenberg: So wie es keine unschuldigen Zuschauer gibt im Fall der „Identitären“, gibt es auch keine unschuldigen Wegseher.
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