Linksliberales Wahldilemma : Orientierungslosigkeit höherer Ordnung
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Das gebrochene Selbstverständnis zum Unabhängigen
Heute kommt Sekundäres zuerst, Oberfläche. Wir haben kein Gespräch über intelligenten Verkehr, nicht einmal mitten im Abgasskandal. Vielmehr arbeiten Regierung und Industrie hier eng zusammen, gegen den Bürger. Der Wunsch der FDP, jeder möge doch selbst wählen, womit er fährt, ist Liberalismus auf dem geistig-moralischen Niveau von Heidi Klum. Oder was ist mit jenen, die gern selbst wählen, was sie atmen? Winfried Kretschmann findet den Dieselmotor gscheit. Von Ludwig Lohner, der 1900 in Paris mit Ferdinand Porsche den damals schon überlegenen Antrieb vorstellte, hat er noch nie gehört. Privatheit, um ein zweites Beispiel zu nennen, hat keine Lobby mehr. Vermeintlich liberale Politik hat sich entschieden, statt die besseren Lösungen zu suchen nur noch eine bestimmte Klientel zu umwerben. Dabei sind die Mitdenkenden noch nie den Stärkeren, Egoistischeren oder Besserverdienenden gleichzusetzen gewesen, denn die Besserverdienenden sind ja bloß die ganz Angepassten.
Wenn Linksliberalismus bedeutet, den Kampf gegen Gleichgültigkeit, Rückschritt und falsche Ideen aufzunehmen, dann war die letzte liberale Partei überraschenderweise die SPD. Denn dazu gehörte gerade auch politische Drecksarbeit der Novellierung eines sich selbst in Ketten legenden Sozialsystems, das Arbeitslosen noch die Möbelträger bezahlte, wenn sie anderswo einen Job bekamen. Helmut Schmidts Fehler wurde auch korrigiert, spätestens als Sigmar Gabriel nach einer Wahl in Baden-Württemberg im Willy-Brandt-Haus das Ende des Atomstroms in Deutschland verkündete. Ich wünschte zum einen, diese Ansätze würden besser verstanden. Aber selten konnte man das gebrochene deutsche Selbstverständnis zum Autonomen und Unabhängigen einfacher beobachten als bei der Demontage des pragmatischen, streitbaren, inspirierten und unideologischen Kandidaten der deutschen Hauptglaubensrichtung, die doch jeder zu kopieren sucht. Als könne Deutschland sich den Verlust eines Peer Steinbrück leisten oder die fortgesetzte Regierung einer Kanzlerin, der alles einerlei ist – vom palästinensischen, akzentfrei und fließend Deutsch sprechenden Flüchtlingsmädchen bis zur Atomkraft –, solange nur kein Mann an ihrer Macht kratzt. Den kulturellen Herausforderungen der Einwanderung und Demographie möchte Angela Merkel damit begegnen, den Kindern das Pfingstfest wieder näherzubringen, und nicht etwa die Entropie, die uns erklärt, wieso eine offene Gesellschaft stabiler ist als eine geschlossene. Außerdem koaliert sie mit einer Regionalpartei, die „Bayern zuerst“ brüllt.
Doppelt so viele Operationen wie medizinisch angezeigt
So rutschten wir weiter hinein in eine Krise, die vor Jahrzehnten begonnen hat, als wir den Entwicklungen in Nachrichtentechnik, Mobilität, Arbeitsmarkt und Familie nicht mehr folgen konnten. Diese Krise ist eine Verstehenskrise, durch bloßes Nichtstun droht sie uns ins Instabile zu kippen. Es ist kein Zufall, dass ein paar Sätze zur Gerechtigkeit und den Regeln unseres Zusammenseins bei der Kür von Martin Schulz zu einer Euphorie führten, als gäbe es ein deutsches yes, we can. Er begegnete einem Gefühl, das wir alle kennen, aber kaum zu benennen wagen: Verrohung. Ich wünschte, er würde dem noch viel weiter, aggressiver und detaillierter nachgehen als bisher. Denn das ist mehr als nötig.