Weltuntergang im Roman : Frankenstein, die Pandemie und das Ende der Menschheit
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Sie wollte nicht immer nur zuhören, sondern lieber Romane schreiben: Mary Shelley (1797 bis 1851), gemalt von Samuel John Stump im Jahr 1831. Bild: Ullstein
Vom ersten künstlichen Menschen zum Untergang unserer Spezies: „Der letzte Mensch“ von Mary Shelley wird endlich wiederentdeckt.
Als Mary Shelley 1824 mit der Arbeit an ihrem dritten Roman begann, war sie 27 Jahre alt und dank ihres sechs Jahre zuvor erschienenen Debütromans „Frankenstein“ eine erfolgreiche und berühmte Autorin. Das „English Opera House“ in London hatte die Geschichte von Frankenstein und seinem Monstrum 1823 sogar auf die Bühne gebracht, angekündigt als „Romanze von besonderem Interesse“. London war damals eine unvergleichliche Metropole, die einzige Stadt Europas, die mehr als eine Million Einwohner hatte. Auf Seite 372 von Shelleys drittem Roman sind noch etwa tausend Londoner übrig. Alle anderen, Männer, Frauen, Kinder, hatte die Autorin im Verlauf ihres Buches sterben lassen.
Offenbar las man dergleichen damals nicht gern. Das Buch über eine weltweite Pandemie, der nach und nach die gesamte Menschheit zum Opfer fiel – den letzten tausend Londonern sollte es nicht besser ergehen –, wurde Shelleys größter Misserfolg. Die Rezensionen waren niederschmetternd und der Leserzuspruch so gering, dass „Verney oder Der letzte Mensch“ mehr als ein Jahrhundert lang nicht wieder aufgelegt wurde.
Erst 1965, als Hiroshima und der stetig eskalierende Kalte Krieg das Interesse an Weltuntergangsszenarien und dystopischen Romanen geweckt hatten, wurde das Buch wiederentdeckt, ohne jemals auch nur annähernd so bekanntzuwerden wie „Frankenstein“. Die erste deutsche Ausgabe erschien erst 1982 und wurde nicht nur ihrer umfangreichen Kürzungen wegen heftig kritisiert. Jetzt hat Irina Philippi Mary Shelleys „Der letzte Mensch“ für den Reclam Verlag neu übersetzt, ungekürzt. Eine Buchpremiere gewissermaßen, nach beinahe zweihundert Jahren.
Ein Monstrum mit dem Schicksal einer Frau
In ihrem Debüt, das Mary Shelley 1816 in Lord Byrons Villa am Genfersee schrieb, während Byrons Leibarzt Polidori gleichzeitig die erste Vampirerzählung der Literaturgeschichte verfasste, verschafft Mary Shelley der Kreatur einen Zugang zu ihrer eigenen Gefühlswelt sowie Vorstellungen von sozialen Verhältnissen, indem sie ihr das Lesen beibringt. Der einsame Unhold beobachtet das einfache Familienleben in einer armseligen Bauernhütte und liest – Plutarch, Goethes „Werther“ und Miltons „Paradise Lost“.
Mary Shelleys eigene Sozialisation dürfte nicht viel anders verlaufen sein. Die Autorin gab dem vermeintlichen Monstrum ein Frauenschicksal: beobachten, zuhören, lesen. Im Stillen eine schöne Seele ausbilden und darauf hoffen, dass es irgendjemand bemerkt. Im Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe des „Frankenstein“ von 1831 erinnert sie sich an die Tage am Genfersee: „Die Gespräche zwischen Shelley und Byron, bei denen ich eine hingebungsvolle, aber beinahe völlig stille Zuhörerin gewesen bin, waren zahlreich und dauerten lange.“
Im Jahr 1822 stirbt ihr Ehemann Percy Shelley, zwei Jahre später Lord Byron, der bewunderte, skandalumwitterte gemeinsame Freund. Ihre Mutter, die berühmte Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, starb elf Tage nach der Geburt der Tochter. Nur eines von Mary Shelleys Kindern überlebte die ersten Jahre. Im Alter von knapp fünfundzwanzig wurde sie Witwe und blieb unverheiratet bis zu ihrem Tod. Die großen Männer, die es in ihrem Leben gegeben hatte, waren fort. Sie hörte weniger zu und schrieb mehr.