Literarische Authentizität : Knausgård ist gut, aber Handke ist besser
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Ist er’s, oder spielt er nur? Karl Ove Knausgård Bild: Michael Nagle/Redux/laif
Wollen wir etwa zurück zur puritanischen Fiktionskritik? Wer heute von einem „Überdruss an erfundenen Geschichten“ redet und stattdessen das vermeintlich Authentische preist, sitzt selbst einer Fiktion auf.
Der älteste Käse wird manchmal zum erstaunlichsten Fondue hochgekocht - das trifft insbesondere auf den Literaturbetrieb zu. Im Zuge der Verehrung des norwegischen Breitwandformatschriftstellers Karl Ove Knausgård, ja geradezu schon einer Knausgårdbesoffenheit dieses Betriebs ist nun seit einer Weile immer wieder von einer vermeintlich neuen „Authentizität“ zu hören, davon, dass das „wahre Leben“ interessanter sei als die Fiktion, und davon, dass das angeblich neue Genre des „Memoir“ den Roman ablöse.
Jüngst hat Peter Praschl in der „Welt“ seinen Überdruss an „erfundenen Geschichten“ kundgetan, die ihm nichts mehr gäben, stattdessen lese er Nichtfiktionales, in dem er mehr „Radikalität, Risikofreude, Verschlungenheit, Rohheit, Direktheit und emotionale Wucht“ erkennt. Interessant als gesellschaftliches Phänomen ist allemal, dass Sachbücher der „klassischen“ Belletristik zunehmend den Rang ablaufen und inzwischen die Verlage ihre Konsequenzen daraus ziehen, auf Biographisches setzen oder gern auch mal etwas als persönlichen Essay ausgeben, was früher vielleicht als Roman oder ohne Gattungsbezeichnung gedruckt worden wäre. Das ist letztlich nichts anderes als der Hollywood-Slogan „Based on a true story“, eine Verkaufsmasche, die offenbar immer noch funktioniert. Aber „Based on a true story“, das ist ja gerade der Witz der modernen und postmodernen Literatur, ist etwas auch schon allein deshalb, weil es einmal in Kafkas Kopf auftauchte oder in dem von David Foster Wallace.
Stinknormale Authentizitätsfiktion
Gegen Knausgård an sich ist überhaupt nichts einzuwenden, der vielgerühmte Sog-Effekt beim Lesen seiner Wälzer, in denen sehr viele Menschen sich wiederfinden und die aus deutscher Sicht vielleicht so etwas sind wie eine längere Variation von „Generation Golf“, ist durchaus nachvollziehbar und vermag auch Begeisterung zu wecken. (Wenn man sagt, Unterhaltungsliteratur sei kein Schimpfwort, dann vielleicht eben aufgrund solcher Bücher.)
Was daran jedoch literaturästhetisch revolutionär sein soll, ist nicht nachzuvollziehen. Dass wir Knausgård - um nur ein Beispiel herauszugreifen - glauben sollen, er wisse wirklich noch genau, was damals sein Bruder in der Studentenbude zu ihm gesagt habe und wie er sich dabei gefühlt habe, ist nichts anderes als eine stinknormale Authentizitätsfiktion, wie sie der Roman seit Jahrhunderten aufbaut. Wenn man irgendetwas aus den Debatten über realistisches Erzählen der letzten Jahrzehnte mitgenommen hätte, müsste man eigentlich misstrauisch werden angesichts einer solchen Scheinwirklichkeitsprosa, die so tut, also könne man einfach „erzählen, wie es gewesen ist“ - und das gilt eben nicht nur für Knausgård, sondern allgemein.
Literaturgeschichtliche Amnesie
Wie kann man heute Prosa schreiben oder lesen, als hätte es nie eine „Krise des Erzählens“ und ihre mannigfaltigen Überwindungsversuche durch eine internationale Moderne gegeben, als hätte es, um einmal für die deutschsprachige Literatur konkreter zu werden, keinen Peter Handke gegeben mit seiner sein ganzes Lebenswerk bestimmenden Frage, wie man überhaupt noch „erzählen“ kann? Und keinen Wolfgang Hilbig oder Bernward Vesper, dessen Buch „Die Reise“ an Radikalität, Verschlungenheit und emotionaler Wucht so ziemlich alles heute Erscheinende in den Schatten stellt, das aber bewusst als „Romanessay“ klassifiziert wurde, eben weil man es nicht so einfach als nichtfiktionales Tagebuch bezeichnen kann?
Es wirkt - nicht nur aus einer historisch-kritischen Haltung heraus, sondern auch für das persönliche Empfinden von literarischen Texten - befremdlich, wenn nun hinter all die ästhetischen Überlegungen zum realistischen Erzählen, vor allem aber hinter die Werke, die aus ihnen heraus entstanden sind, wieder zurückgegangen werden soll und man so tut, als gäbe es irgendein unschuldiges, authentisch-nichtfiktionales Erzählen.
„Ganz sicher ist, dass Leser von memoirs und personal essays an etwas anderem interessiert sind als nur daran, ästhetische Erfahrungen zu machen oder nur ästhetische Urteile zu fällen“, schreibt Praschl. Auch das ist ein befremdlicher Satz: Mit den „nur ästhetischen Erfahrungen“ deutet er wohl an, dass das Ethische nicht in einer Fiktion vermittelt werden könne. „Kann es sein, dass mir das Fiktionale plötzlich wie eine Lüge vorkommt, also etwas moralisch Verwerfliches, nicht bloß wie eine Erfindung, also etwas, an dem man moralisch nichts beanstanden kann?“, fragt er weiter. Wenn das gilt, dann wäre es eine Neuauflage der puritanischen Fiktionskritik, die man längst überwunden glaubte.
Wollte man Praschls Leseerfahrungen allerdings etwas Positives abgewinnen, ebenso wie denen vieler anderer Kritiker, die zuletzt Bücher wie Stuckrad-Barres „Panikherz“ oder Thomas Melles „Die Welt im Rücken“ als besonders authentisch wahrgenommen haben, könnte man auch sagen: Sie alle sind besonders guten Fiktionen aufgesessen.