Literarisches Leben : Die unreine Poesie
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So bunt wie die Poesie: Szene aus Andrew Lloyd Webbers Musical „Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat“, London 2004 Bild: Getty
Kunterbunt ist die Sprache, und als Dichter kann man ihr nur in Demut begegnen. Schriftsteller Ralph Dutlis Dankesrede beim Deutschen Sprachpreis ist eine Hommage an die Poesie.
Als ich erfuhr, dass ich von einer Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache einen Preis bekommen sollte, erbleichte ich ein wenig. Natürlich erschrak ich – über mich, weil ich in meiner Poetik ein geradezu komplizenhaftes Verhältnis zur Unreinheit unterhalte. Sie scheint mir konstitutionell eigen und eingeschrieben zu sein in meine Gedichte, Romane, Essays, Lyrikübertragungen.
Müssen Sprachen rein sein, sollen sie reingepflegt werden? Jede ist aus Beflecktem und Vermischtem erwachsen, im Schmutz der Zungen und Kehlen, aus Hybridem, längst Abgelegtem, Verwesendem und frech neu Aufblühendem. Sprache sträubt sich gegen die unbefleckte Empfängnis. Kunst ist frohgemut buntgescheckt, befleckt und unrein.
Erzengel und Mongolenhorden
Das Deutsche wird eine verlorene Unschuld, die nie eine war, nie mehr wiedergewinnen. Gäbe es Shakespeares Englisch ohne das große Kuddelmuddel aus Angelsächsisch und normannisch-französischem Import, der so viele lateinische Sprachwurzeln über den Ärmelkanal verschiffte? Das Französische? Dieses herrliche, Bäume und Quellen verehrende Galliergemisch mit aufgepfropftem Vulgärlatein und sechshundert fränkisch-germanischen Einsprengseln. Das Russische, das ich liebe und aus dem ich viele Gedichte übersetzt habe: Steppen-Skythisch, Balto-Slawisch mit finno-ugrischem Substrat, byzantinisch alphabetisiert. Zudem trägt es Spuren oder Narben des Mongoleneinfalls von 1240 und der Herrschaft der „Goldenen Horde“, die mehr als zweihundert Jahre dauerte. Der russische Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky schreibt in seinem Gedicht „Porträt der Tragödie“, das ich mit Freude übersetzt habe, über den für europäische Kehlen nicht leicht auszusprechenden „Jery“-Laut: Ein Mongole habe ihn erfunden. Vermutlich ist jede Sprache eine „Hybride aus Erzengeln und Mongolenhorden“, so Brodsky im selben Gedicht. Reinstes Kunterbunt!
Erst recht die Poesie: Tänze auf Müll, Kehrichtfutter. In einem meiner frühen Gedichte, im Band „Notizbuch der Grabsprüche“: „Ich habe Glücksfälle für dich / erfunden Unglücksfälle Abbruchhalden / da liegst du rostfrei inmitten aller / Herrlichkeiten totgeglaubter Zufallsparadiese // die Wahrheit ist kleiner! / kleiner als ein Haar? Wie es / wahr ist wenn du liebst // ich habe einen Idyllendichter / in einem Steinhaus so lange / mit Kehricht gefüttert und er / narrt mich mit einer Blüte / strenger Poesie!“
Es kann gut sein, dass dies hier eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache wird, an deren offenherzige vitale Zeitlichkeit und leicht schamlose Weisheit. Als Dichter und Übersetzer kann man einer Sprache nur in Demut begegnen, wenn sie einen das bisschen Lebensstrecke lang als hellhöriges Medium akzeptieren will, als zerbrechliches, manchmal tollkühnes Sprachrohr mit Ohr und menschlicher Zunge. Wir sind nie wirklich „sprachmächtig“, müssen vielleicht sogar alle Macht ablegen, wenn wir ihr halbwegs würdiges, freiheitsliebendes Instrument werden wollen.
Unrein gereimt
Es fängt damit an, dass ich mich zwischen den Sprachwelten bewege, aus denen ich Gedichte in die von mir – o ja! – geliebte deutsche Sprache übersetzt habe, vom okzitanischen und altfranzösischen Mittelalter bis in die russische Moderne, ein paar englische und lateinische Gedichte waren auch dabei. Es ging nicht zuletzt darum, die deutsche Poesie durch den Kontakt mit den anderen Sprachwelten heilsam zu befremden. Ich halte es nicht ungern mit Goethes Bestimmung der Weltliteratur als dem „freien geistigen Handelsverkehr“, der den Beteiligten „Vorteil und Genuss“ beschere (so in der Einleitung zu Carlyles „Leben Schillers“).
In meinen Gedichtübertragungen habe ich bewusst und voller Lust oft unreine Reime verwendet. In meinem Buch „Nichts als Wunder – Essays über Poesie“ gibt es dazu den Versuch „Der Reim ist der Reiz. Lob des unreinen Reims“. Wer vor allem Gedichte aus dem Russischen ins Deutsche übertragen hat, stößt ganz natürlich auf das Problem des Reims: Der Vorrat an Reimen ist im Russischen – einer hochflektierten, also formenreichen Sprache – riesig, im Deutschen dagegen winzig. Dichter wie Marina Zwetajewa, von der ich unter dem Titel „Lob der Aphrodite“ gerade eine größere Gedichtauswahl übertragen habe, haben diesen immensen Reimvorrat noch einmal um Hunderte von kühnen experimentellen Reimen erweitert.
Joseph Brodsky lässt in einer eigentümlichen Erotik des Reimens Wörter sich paaren, die in der Tradition noch nie sich gereimt haben. Der gebrochene, neue Reim ist ein Erkenntnisinstrument. Reines mit Unreinem (fast hätte ich gesagt: Unreimem) mischend, musste auch ich ungezählte neue, raue, schroffe, dissonante Reime finden, habe bei Brodsky „Hoffnung“ auf „Hofhund“ gereimt, bei Mandelstam „Buonarroti“ (gemeint ist Michelangelo) auf „backenknochig“, bei Zwetajewa „nicht sein“ auf „Gesichtskreis“. Für jedes Reim-Experiment gab es semantischen Anlass, aber ich habe ihn genau am Versende unrein verpaart.
Ungewohnte, ungemütliche Reime, die ich der deutschen Sprache angedichtet habe. Verpaarungen, von denen sie noch nie gehört hat. Und doch hört sie hellhörig, nicht ungern, wenn auch unrein, die neue, dissonante Musikalität. Unser Ohr ist ein so feines und wunderbares Organ, dass es nicht nur auf Herz-Schmerz-Reime erregt reagiert, sondern sich auch an ferneren Assonanzen freuen kann. Hat nicht Heinrich Heine im Pariser Exil, in seiner Spätzeit, schon als Lazarus dahinsiechend in seiner Matratzengruft, „Rotznas“ auf „Mozart“ gereimt?
Absurditäten einer verkehrten Welt
In den mittelalterlichen absurden Gedichten, den „Fatrasien“, die ich aus dem Französischen des dreizehnten Jahrhundert erstmals übersetzt und 2010 als Buch veröffentlicht habe, interessierte mich die absurde Verkehrung der reinen Logik. Es war ein Anliegen, der scheinbar durchorganisierten, binär digitalisierten Gegenwart die haarsträubend unreine Logik der Poesie und den vitalen Spieltrieb der Sprache zu offenbaren. Weshalb es befreiend war, in jenen scheinbar so fernen, verwirrend modern anmutenden Gedichten fliegende Esel zu finden, schwangere Männer, Pferde aus Asche, Lieder aus Lauchsuppe, Würste aus Glas und kopflose Schönheiten. Die Absurditäten einer verkehrten Welt schienen meinem Sinn für Unreinheit großzügig entgegenzukommen.
Ich liebe das Muster in allem, ich mag das Hybride, Gesprenkelte, Gefleckte, Gescheckte, Geäderte, Gemaserte, Narbige, Gemischte, das universale Durcheinander, die Rumpelkammer des Weltalls. Ich mag es mit hinterlistiger Fröhlichkeit, dass die Gabeln und Messer aus völlig verschiedenen Sets stammen, Laken und Kissenbezüge aus unterschiedlichen Epochen meines Lebens. So schlafe ich mich durch meine alten Träume.
Mich fasziniert die beglückende rituelle Unreinheit der Kunst. In meinem Roman „Soutines letzte Fahrt“ wird der weißrussisch-jüdische Maler Chaim Soutine 1943 im besetzten Frankreich mit einem durchgebrochenen Magengeschwür von der Loire, wo er untergetaucht ist, zur Operation nach Paris gefahren, in einem Leichenwagen versteckt, um den Besatzern zu entgehen. In seinem Morphin-Delirium glaubt er jedoch, er fahre in ein „weißes Paradies“. Er kommt dort auch an, in der blitzblanken Klinik des Doktor Bog („Bog“ bedeutet auf Russisch „Gott“), wo man ihn für geheilt erklärt, wo der Schmerz ihn verlassen hat, wo es ihm jedoch verboten ist zu malen, noch je einmal einen Pinsel in die Hand zu nehmen.
Poesie trägt einen bunten Rock
Dieses Reich des klinisch Weißen und Reinen ist im Roman das Reich des Todes, Farbe bedeutet Auflehnung gegen die tödliche Reinheit. Sie ist verblüffend menschlich. So wird der Maler in einem Heizungskeller des weißen Paradieses, also in einem Untergeschoss des Lebens, wo er nachts, bei unruhigen Gängen durch die scheinbar leere Klinik, weggeworfene Malutensilien findet, verbotenerweise wieder zu malen anfangen. Er ist bereit, dafür den geforderten Preis zu zahlen – die Vertreibung aus dem Paradies, wo dem Maler nicht zu helfen war. Aber der Schmerz kehrt in ihn zurück. In einem Milieu aufgewachsen, das die bildliche Darstellung von Menschen und Tieren mit einem religiösen Tabu belegte, vermochte er seit seiner Kindheit nichts anderes, als genau das Unreine zu tun, das Gebot farbig zu übertreten.
Die Poesie trägt einen bunten Rock wie jener, den Joseph, der jüngste Sohn des Patriarchen Jakob, trug. Es ist Joseph der Träumer, der von seinen eifersüchtigen Brüdern nach Ägypten verkauft wurde (1. Buch Mose 37). Vielfarbig ist Josephs Rock, es ist der Rock der Poesie und der Träume. Schmutzig muss er werden. Und er muss auch noch bluten. Aber die Geschichte wird gut ausgehen, der Gewalt kommt nicht das letzte Wort zu. Joseph der Träumer wird am Hof des Pharaos zum Traumdeuter aufsteigen und als Einziger die goldenen Ähren und die mageren Rinder zu deuten wissen, die sieben fetten und die sieben dürren Jahre.
Angesichts des Ortes der Preisverleihung, in Wittenberg, sei Luthers Bibelübersetzung benutzt, in roher, unbereinigter Rechtschreibung, Wortstellung, Wortbedeutung. Seit dem unbesiegt überstandenen Kampf mit dem Engel trägt Jakob den Namen „Israel“ („Gottesstreiter“): „JSrael aber hatte Joseph lieber denn alle seine Kinder / darumb das er jn im Alter gezeuget hatte / Vnd machet jm einen bundten Rock . . . ALs sie jn nu sahen von ferne / ehe denn er nahe bey sie kam / schlugen sie an / das sie jn tödten / vnd sprachen vnternander / Sehet / der Treumer kompt daher / So kompt nu / vnd lasset vns jn erwürgen / vnd in eine gruben werffen / Vnd sagen / Ein böses Thier habe jn gefressen / So wird man sehen / was seine Treume sind. ALs nu Joseph zu seinen Brüdern kam / . . . Da namen sie Josephs rock / vnd schlachten ein Ziegenbock / vnd tunckten den Rock im blut / vnd schickten den Bundten rock hin / vnd liessen jn jrem Vater bringen. . . . ER kennet jn aber / vnd sprach / Es ist meines Sons rock / Ein böses Thier hat jn gefressen / Ein reissend Thier hat Joseph zurissen. Vnd Jacob zureis seine Kleider / vnd leget einen Sack vmb seine Lenden / vnd trug leide vmb seinen Son lange zeit.“
Zur Schwingung gebrachte Luft
Eines meiner Lieblingsgedichte von Ossip Mandelstam, aus dem Jahr 1913, spielt in der ersten Strophe auf diese Geschichte an. Nebenbei: Der Vorname Ossip ist eine russifizierte Form des biblischen Namens Joseph, eine Selbstidentifikation liegt nahe. Das Gedicht, das zu übertragen für mich ein Glück bedeutete, spricht von Wunden und einer bitteren Gegenwart, aber auch von einer Befreiung – durch Gesang, durch die Magie der Poesie. Die Dichtungen der Beduinen werden beschworen, im Halbschlaf zu Pferd gedichtete Verse, die vorislamisch-arabischen Moallakat, die auch Goethe, lange vor dem „West-östlichen Divan“, faszinierten.
Eines der Gedichte, von dem Beduinendichter Amralkais, übersetzte er 1783 zusammen mit Herder nicht aus dem Arabischen, sondern aus dem Englischen (dieselbe Übersetzung von William Jones lieh er 1815 bei der Arbeit am „Divan“ in der Weimarer Bibliothek aus), ein Bruchstück ist erhalten geblieben. Doch nun vom Weimarer Beduinen Goethe zum modernen Petersburger Dichter mit seinen dichtenden Wüstenreitern: „Die Luft – vertrunken, und das Brot vergiftet. / Und diese Wunden heilen: hart. / Die Schwermut Josephs in Ägypten – / Genauso bittre Gegenwart. // Ein Sternenhimmel, Beduinen / Zu Pferd, sie reiten da im Schlaf / Und dichten frei – von dem, was ihnen / An diesem wirren Tag geschah. // Nur wenig braucht es zur Erleuchtung: / Verlorenging dein Köcher, tausch / Dein Pferd! Die Sicht wird leichter – / Und all der Nebel löst sich auf. // Singt einer wahr und singt es eigen, / Mit vollem Atem – wenn’s gelingt / Verschwindet alles, übrigbleiben / Der Raum, die Sterne, er, der singt!“
Das Gedicht ist auch eine Besinnung auf die oralen Ursprünge der Poesie. Denn Poesie findet im Mund statt, zwischen Kehlkopf, Gaumen, Zunge, Zähnen und Lippen. Genau dort, wo die Laute entstehen, miteinander kämpfen und sich einander ergeben. Poesie ist ihr lautlicher Vollzug. Ein gedrucktes Gedicht ist nur eine Partitur, ein schwacher visueller Ersatz für das, was erst in der zur Schwingung gebrachten Luft zur Entfaltung und Vollendung gelangen kann.
Den Dichter überschreitende Kräfte
In einem von Mandelstams „Fragmenten aus vernichteten Gedichten“ von 1931 gibt es ein merkwürdiges Wortspiel und einen Schlüssel für die Poesie. Der Himmel heißt im Russischen „njebo“, der Gaumen aber „njobo“: „Dass dieser Gaumen Raum und Himmel werde / Und meine Lippen springen – wie ein rosa Lehm.“ Gaumen und Lippen, der Mund als Ganzes, stehen hier als Ort der Poesie, als Versprechen dichterischer Universalität. Poesie wird damit definiert als fortdauernde, den Dichter in seiner Zeit- und Sterblichkeit überschreitende Kraft, die einen magischen Kosmos schafft. Aber aus der unreinen Mündlichkeit, der Poesie des Mundes, der Verletzlichkeit der lehmgleichen Lippen.
Dichten im Schlaf, nachts, zu Pferd, im Sattel – auch ein markantes Motiv des ältesten der Troubadours, Guilhem IX., Herzog von Aquitanien (1071 bis 1127), dessen „Lied aus reinem Nichts“ – eines der modernsten Gedichte, aus dem elften Jahrhundert! – ich aus dem mittelalterlichen Okzitanischen übertragen habe. Hier nur die erste Strophe: „Ich mach ein Lied aus reinem Nichts, / Von mir nicht und von keinem sprichts, / Nicht Liebeslied, nicht jugendlich /Noch irgendwas. / Ich habs im Schlaf gemacht, als ich / Im Sattel saß.“
Konnte Mandelstam dieses Troubadour-Gedicht kennen? Aber ja. Als er 1909/1910 für ein Semester an der Universität Heidelberg studierte, hörte er Vorlesungen zur mittelalterlichen französischen und provenzalischen Literatur.
Lob aus Lumpen und Licht
In einem meiner eigenen Gedichte aus dem Band „Novalis im Weinberg“ (2005) habe ich sie zusammengeführt, die Beduinen, den ältesten Troubadour, der auf seinem Pferd schlafend dichtete, und den modernen russischen Dichter; den Anblick des kargen Winter-Weinbergs in der Pfalz, wo die Gedichte entstanden sind, und das was sich insgeheim, in der Tiefe, bereit macht für das alljährlich wiederkehrende Aufblühen. Es ist das Gedicht „Geduld und Knorrigkeit“: „so lange Kahlheit Knorrigkeit / Ausharren mit auseinander / gereckten Armen (am Draht!) / soviel Kälte und Schweiß / soviel Zertretenes Gepresstes / soviel später Triumph // der Weinberg dichtet / im Schlaf zu Pferd / seine scheue / Beduinenpoesie!“
Der Weinberg, dieses Kraftwerk der Poesie, die Beduinen, der Troubadour, ein moderner russischer Joseph mit buntem Rock, von seinen Brüdern verkauft, aber als Einziger fähig, selbst noch die Albträume des zwanzigsten Jahrhunderts – bis hin zum eigenen Tod im Gulag – in seinen Gedichten zu deuten: Aus dieser Mischung habe ich meinen eigenen bunten Rock gemacht, unrein gewiss, aber geschenkt von der deutschen Sprache, auf die ich einmal ein „Lob aus Lumpen (und Licht)“ gedichtet habe. Rein ist nur die Dankbarkeit.
Ralph Dutli ist Schriftsteller. Er hielt diese Rede in Wittenberg als Dank für den diesjährigen Deutschen Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung.