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Neue Bachmann-Werkausgabe : Geschüttelt und gerührt

Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926-1973). Bild: Piper Verlag

Zu viel Liebe zum Detail? Der Suhrkamp Verlag stellt in Anwesenheit von reichlich Prominenz seine Ingeborg Bachmann-Werkausgabe vor.

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          Wenn es eine Suhrkamp-Royalty gibt, dann ist sie an diesem Winternachmittag im vierten Stock des Verlagshauses in der Berliner Pappelallee versammelt. Jonathan Landgrebe, der Vorstandsvorsitzende der Suhrkamp AG, sein Geschäftsführer Thomas Sparr, der Cheflektor Raimund Fellinger und die Pressechefin Tanja Postpischil sitzen am Tisch des Konferenzraums, in dem die Ausgabe der Werke Ingeborg Bachmanns vorgestellt wird, die in gemeinsamer Regie der Verlage Piper und Suhrkamp von diesem Jahr an erscheint. Zwischen und neben den Suhrkamp-Gewaltigen aber sind vier Gäste aus Österreich plaziert, von denen das Gelingen der Ausgabe abhängt: die zwei Gesamtherausgeber Hans Höller und Irene Fußl sowie Manfred Mittermayer, der Leiter des Salzburger Literaturarchivs, das den Nachlass von Ingeborg Bachmann betreut, und Heinz Bachmann, Geophysiker und Bruder der Dichterin.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          Er spricht als Erster. Und falls es noch Zweifel daran gab, dass dies keine Werkausgabe wie jede andere ist, werden sie durch Heinz Bachmanns knappes Statement zerstreut. „Um den Gerüchten ein Ende zu bereiten“ und „weil wir die Verantwortung nicht der nächsten Generation übertragen wollten“, so Bachmann, habe sich die Familie entschlossen, mit dem Nachlass an die Öffentlichkeit zu gehen. Und, ja: „Weil wir den Eindruck hatten, dass Ingeborg das gewünscht hat.“ Ingeborg, die Schwester, die Heilige der deutschsprachigen Literatur: Was sie gewünscht, gelitten, vernichtet oder eben nicht vernichtet hat, auch darum geht es an diesem Nachmittag.

          Alles ans Licht

          Es folgt der Auftritt des Wissenschaftlers. Oder soll man sagen: des Weisen, des Eingeweihten, des Bachmann-Apostels? Denn Hans Höller, pensionierter Germanistikprofessor aus Salzburg, beginnt die Präsentation der historisch-kritischen Bachmann-Ausgabe mit einer Predigt wider die Heiden der Kritik. Der Debütband, „Male oscuro“, mit Aufzeichnungen Bachmanns aus der Zeit ihres Zusammenbruchs nach der Trennung von Max Frisch, ist nämlich gerade erschienen und in dieser Zeitung skeptisch besprochen worden. Von „Kulturindustrie“ und „,Gala‘ für Literaturinteressierte“ war dabei die Rede, und das nimmt Höller persönlich. Es gehe bei dieser Sammlung von Traumnotizen und Briefen an den behandelnden Arzt nicht um Voyeurismus, sondern um Zeugnisse eines „poetischen und psychoanalytischen Ereignisses“: die Verwandlung von Träumen in Literatur.

          Wird verehrt wie kaum eine andere: Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.
          Wird verehrt wie kaum eine andere: Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. : Bild: Piper Verlag

          Bei Ingeborg Bachmann, so lässt sich Höllers hochgestimmter, von der Elegie zur Arie sich emporschraubender Monolog zusammenfassen, ist auch das Privateste Literatur, weil sie aus ihrem Privatleben literarische Prosa schöpfte. Dass sie diese, von dem Roman „Malina“ abgesehen, in späteren Jahren nicht mehr publizierte, sondern - wie das große „Todesarten“-Projekt - bei ihrem Tod unvollendet hinterließ, ist für Höller nur noch mehr Ansporn, auch das kleinste Bachmann-Fragment ans Licht zu holen.

          Wer weint, hat keinen klaren Blick

          Ein Zeugnis, vielleicht das intimste, für die Vermischung von Leben und Prosa sind Ingeborg Bachmanns Briefe an Max Frisch. Einen Großteil von ihnen ließ sie sich von Frisch zurückschicken, offenbar, weil sie nicht wollte, dass er sie in Literatur verwandelte. Höller und Irene Fußl wollen die Briefe noch vier Jahre zurückhalten, um sie dann möglichst ungekürzt zu edieren - nicht etwa, um der toten Autorin noch eine Zeitlang Ruhe zu gönnen, sondern weil die Korrespondenz so „dramatisch, so herzzerreißend“ sei, dass ihn die Arbeit daran jetzt „zu sehr angreifen“ würde, wie Höller mit tränenweicher Stimme gesteht.

          Nun ist die Verehrung der Dichterin Ingeborg B. eine Sache, die Herausgabe ihres Werkes eine andere. Wer weint, hat keinen klaren Blick. Ebendiese Klarheit ließ Hans Höller bei der Vorstellung seines Editionsprojekts vermissen. Auf die Frage, nach welchen Kriterien er Bachmanns Briefe publizieren oder auch stellenweise der Neugier der Nachwelt entziehen werde, blieb er eine Antwort schuldig. Persönlichkeitsrechte, hieß es im Konferenzsaal, würden geschützt. Für Uwe Johnson, Ilse Aichinger und Hans Magnus Enzensberger, deren Briefwechsel mit der Dichterin ebenfalls Teil der auf vierzig Bände angelegten „Salzburger Bachmann Edition“ sein werden, mag das gelten. Was aber ist mit der Person Ingeborg Bachmann? Sie habe „sehr wohl“ Texte vernichtet, die sie nicht hinterlassen wollte, sagte Höller in Berlin. Der Umkehrschluss scheint das Prinzip dieser Werkausgabe zu sein: Alles, was überlebt hat, wird gedruckt.

          Was das bedeutet, zeigt der nächste Band der Edition, der im April erscheinen wird. Für „Das Buch Goldmann“ hat die Herausgeberin Marie Luise Wandruszka Texte aus dem Umkreis des „Requiems für Fanny Goldmann“, das zuerst 1978 bei Piper erschien, neu geordnet und kommentiert. Dabei musste sie nicht nur jene Tippfehler berichtigen, von denen die faksimilierten Manuskriptseiten im Anhang überquellen, sondern auch ganze Satzglieder aus dem Zusammenhang ergänzen oder neu formulieren. Im „Buch Goldmann“ ist das eindrucksvoll gelungen, aber man fragt sich auch, wie weit solche Eingriffe gehen dürfen, wenn sie intime Dokumente betreffen. Das Schicksal der „Salzburger Bachmann Edition“ wird auch davon abhängen, ob es den Herausgebern gelingt, die Rührseligkeit, mit der sie in Berlin antraten, aus ihrem Instrumentarium zu streichen.

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