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Religion und Gesellschaft : Wovon lebt der weltanschaulich neutrale Staat?

  • -Aktualisiert am

Ort demokratischer Repräsentanz und weltanschaulicher Diskussion: Der Bundestag in Berlin. Bild: dpa

Horst Dreier stellt in seinem neuen Buch die Grundsatzfrage: Wie ist ein Staat zu denken, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gewährt, aber trotz des Drucks neuer Fundamentalismen sein weltanschauliches Profil bewahrt?

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          Auf der obersten Ebene der Zeit- und Zeichendeuterei wird viel geraunt und gemunkelt, und zwar seit Jahren über die Wiederkehr des Numinosen, der alten und neuen Götter, des Mythos und des Heiligen. Hier hat ein „religious turn“ alle Disziplinen erfasst. Auf der mittleren Ebene geht es um die leidige Frage, ob „der“ Islam zu „uns“ gehört oder nur bei uns wohnt. Auf der unteren Ebene geht es um Kopftuch und Burka, um die Befreiung vom Schwimmunterricht oder die Zumutbarkeit eines Kreuzes in Schulzimmern und Gerichtssälen. Von all dem ist in Horst Dreiers grundsätzlich angelegtem Buch zwar auch die Rede.

          Doch im Zentrum steht das Grundsatzproblem, wie ein Staat zu denken ist, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gewährt, aber trotz des Drucks neuer Fundamentalismen sein weltanschauungsneutrales Profil bewahrt, indem er alle Formen metaphysischer Sinnstiftung energisch in den Bereich der Gesellschaft verweist. Das führt den Juristen Dreier am Ende zu der bekannten Frage, ob die Verfassungs- und Legalordnung des Staates mit ihrem Vertrauen auf „Verfahren“ nicht doch bestimmter außerrechtlicher Kraftspender bedarf, um zu funktionieren, heißen sie nun Heimat, Herkunft, Sprache oder Geschichte.

          Dreier beschreibt zunächst das kirchen- und staatskirchenrechtlich enge Verständnis von „Säkularisation“. Seit dem neunzehnten Jahrhundert hat es sich jedoch enorm ausgeweitet und entsprechend an Schärfe verloren. Diesem semantischen Ausgangspunkt folgt die historische Entwicklung der Religionsfreiheit, die sich nach der gegenseitigen Tolerierung von Katholizismus und Luthertum schrittweise auch für die Reformierten, später für das Judentum und ganz am Ende – in der Weimarer Verfassung und im Grundgesetz – auch für Weltanschauungen und für die Freiheit, „nichts zu glauben“, öffnete.

          Nach diesem Entrée kommt Dreier zur Sache selbst und rekonstruiert noch einmal das Fundament des modernen (deutschen) Staates „ohne Gott“. Seit 1919 gibt es kein landesherrliches Kirchenregiment mehr und keine „Staatskirche“. Der Staat darf sich in Glaubenssachen nicht einmischen, und niemand darf wegen seiner Glaubens- oder Weltanschauungsüberzeugung diskriminiert werden. Staat und Gesellschaft stehen in Distanz, aber der Staat hat jeder transzendenten Überzeugung ihren Entfaltungsraum zu sichern, vorausgesetzt, sie dient nicht zur Bemäntelung wirtschaftlicher Interessen oder verstößt gegen das geltende Recht. Damit hat man zwar noch keine scharfen Grenzen, aber diese Grenzen lassen sich immer noch von Fall zu Fall richterlich konkretisieren.

          Freilich sind die deutschen Länderverfassungen und das Grundgesetz aufgrund ihrer Vorgeschichte in einem konfessionell inhomogenen Land voller Abweichungen vom reinen Neutralitätsprinzip, durchweg zugunsten der traditionellen großen Bekenntnisse. Hinzu kommen die Konkordate mit dem Heiligen Stuhl sowie die Verträge mit Kirchen und jüdischen Gemeinden. Deutschland praktiziert, wie man gesagt hat, eine „hinkende Trennung“, ist aber offen für alle Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Auch wenn Letztere in der politischen Diskussion unterschiedlich bewertet werden mögen, so darf doch der religiös-weltanschaulich neutrale Staat sie nicht grundlos unterschiedlich behandeln. Wie schwierig dies im Einzelnen ist, nicht nur wegen ihrer Texte, sondern auch wegen der offenen oder subkutanen Prägung ihrer Interpreten, wird von Dreier scharfsinnig dargelegt. Aber er spricht sich klar dagegen aus, verfassungsrechtliche Argumente derart zu instrumentalisieren, dass der neutrale Staat unter der Hand wieder zu einem „christlichen Staat“ wird, etwa bei der Interpretation des Gottesbezugs in der Präambel des Grundgesetzes. Zur Lösung der auftretenden Abwägungsprobleme votiert er mit Recht für eine objektivere, normorientierte Sicht, also für eine Abkehr von der Einfühlung in schwankende subjektive Betroffenheiten.

          In seiner dem Ethos der Nüchternheit und Freiheitlichkeit verpflichteten Sicht rechnet Dreier auch deutlich mit einem an den Rändern der Staatsrechtslehre aufsteigenden Wirrwarr von Metaphern des Mythos, des Numinosen und Heiligen ab. Das ist erfrischende Polemik („agambenhafter Obskurantismus“) und Warnung vor einer Sakralisierung der Verfassung.

          Dreier verteidigt hier gewissermaßen die Aufklärung und das auf ihr ruhende moderne rationale Verfassungsverständnis gegen eine Remythisierung des Staatsdenkens, das entweder auf eine auf Unterwerfung gerichtete „Theorie des Bürgeropfers“, auf eine Sakralisierung des Souveräns oder auf ein Verständnis des Menschen als „sakrale Monade“ hinausliefe.

          Am Ende geht es um die Frage, wie eine staatliche Rechts- und Verfassungsordnung „neutral“ funktionieren kann, wenn sie von einer politisch und religiös brodelnden Gesellschaft umgeben ist. Dass die in einer Gesellschaft herrschenden Ansichten sich über die regulären Verfahren auch in Recht umsetzen, ist zu erwarten. Aber der auf Freiheitlichkeit, Gleichheit und religiös-weltanschauliche Neutralität angelegte Verfassungstext muss dem wiederum standhalten, wenn Rechtsänderungen, die diesen Prinzipien widersprechen, als verfassungswidrig verworfen werden können. Dazu bedarf es eines widerständigen Ethos der Interpreten, die in der Lage sind, sich von ihren individuellen Überzeugungen zu distanzieren, wenn sie als Verfassungsrichter entscheiden.

          Wie also ist eine „neutrale“ Verfassungsordnung im religiös bewegten gesellschaftlichen Kontext zu denken, und aus welchen Wurzelfasern nährt sich dieses Ethos der Interpreten? Um hier eine Lösung zu gewinnen, setzt sich Dreier am Ende des Buchs noch einmal mit jenem Satz Ernst-Wolfgang Böckenfördes auseinander, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Schon mit der Rückführung dieses Satzes auf seine Ursprünge im Jahr 1967 und mit der Darstellung seiner Missinterpretationen präsentiert Dreier ein Muster klarer Argumentation. Eine Patentlösung bietet der formelhaft gewordene Satz gewiss nicht, vor allem aber keine Basis für einen „christlichen Staat“. Gemeint war eher „die gelebte lebendige Kultur“, die von allen gesellschaftlichen Kräften getragen wird, so sie denn lebendig sind. Dem fügt Dreier nichts hinzu, aber er streicht auch nichts von dem hier überzeugend entwickelten Verständnis des Staates und seines Religionsverfassungsrechts.

          Horst Dreier: „Staat ohne Gott“. Religion in der säkularen Moderne. C. H. Beck Verlag, München 2018. 256 S., geb., 26,95 .

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