Unvergessliche Szenen im Römer
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Dieses war der dritte Streich nach Tränen und Gesang zum Dank für den Deutschen Buchpreis: Kim de l’Horizon rasiert sich vor dem Publikum den Kopf kahl. Bild: Lucas Bäuml
18.44 Uhr an diesem Montagabend: Die Siegerehrung beim Deutschen Buchpreis ist ihrer Zeit voraus. Kim de l’Horizon, ausgezeichnet für „Blutbuch“, nutzt das zu einer fulminanten Selbst- und Fremdermächtigung.
Fast vierzig Jahre lang durfte Rainald Goetz für sich in Anspruch nehmen, die intensivste Performance der neueren deutschen Literatur auf eine Lesungsbühne gebracht zu haben, als er sich 1983 beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit einer Rasierklinge die Stirn zum Vortrag seines Textes „Subito“ aufritzte. An diesem Montagabend ist er abgelöst worden, von einem Schweizer Autor in Frankfurt und wieder anlässlich eines Literaturpreises. Kim de l‘Horizon heißt die nach Verlagsangaben 2666 (Roberto Bolaño lässt grüßen) geborene nonbinäre Person, die für den Roman „Blutbuch“ (Dumont) im Kaisersaal des Römers den diesjährigen Deutschen Buchpreis zugesprochen bekommen hat.
Der Titel des Buchs hat Kim de l‘Horizon nicht zum autodestruktiven Herumfuchteln mit einer Rasierklinge verführt, doch geschnitten wurde im Römer doch: Nach den Dankesworten fielen die Haare von Kim d l’Horizon, die/der zwar keine Rede vorbereitet, aber einen Rasierapparat in den Römer mitgenommen hatte, mit dem dann vor dem erst sprachlosen, dann teilweise jubelnden Publikum der Gewinnerschädel blankrasiert wurde. Die Verneinung einer jeden Geschlechterrolle durch Entledigung körperlicher Schönheitsattribute ist konsequent angesichts des schmerzvollen Inhalts von „Blutbuch“, einem Roman, der die Behauptung eines ebenfalls nichtbinären Erzählers gegen die gesellschaftlichen Erwartungen zum Gegenstand hat. Es ist ein eindrucksvolles Buch, auch weil darin in der Familie der notwendige Rückhalt für den radikalen Bruch gefunden wird. Kim de l‘Horizons Mutter saß im Frankfurter Publikum.
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