Noch ist es ein Stapel von zwanzig Büchern: Die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 steht fest. Bild: dpa
Deutscher Buchpreis 2020 : Ein Stück Normalität in der Pandemie
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Die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 setzt in ihrer Auswahl auf das, was wir uns alle wünschen: Normalität.
Eines wenigstens bleibt gleich in diesem Jahr, das kulturell sonst so ziemlich alles verändert hat: die Arbeit der Jury des Deutschen Buchpreises. Zwar mögen durch pandemiebedingte Ausdünnung der Verlagsprogramme ein paar Titel weniger erscheinen als in den Jahren zuvor – mit Ulrich Peltzers neuem Roman, der eigentlich in diesem Herbst hätte herauskommen sollen, ist etwa ein heißer Buchpreiskandidat aufs Folgejahr verschoben worden –, aber die sieben diesmal auffällig jungen Juroren haben trotzdem mehr als zweihundert eingereichte Romane geprüft, und das sind so viele wie noch nie zuvor. In einem ersten Schritt ist diese Großzahl nun auf zwanzig reduziert worden, und an diesem Dienstag ist bekanntgegeben worden, was noch übrig blieb.
Die zwanzig Bücher, aus denen in zwei weiteren Entscheidungsphasen dann der beste deutschsprachige Roman des Jahres bestimmt werden soll, setzen sich aus folgenden Titeln zusammen: Helene Adlers „Die Infantin trägt den Scheitel links“ (Jung und Jung), Birgit Birnbachers „Ich an meiner Seite“ (Zsolnay), Bov Bjergs „Serpentinen“ (Claassen), Arno Camenischs „Goldene Jahre“ (Engeler), Roman Ehrlichs „Malé“ (S. Fischer), Dorothee Elmigers „Aus der Zuckerfabrik“ (Hanser), Valerie Fritschs „Herzklappen von Johnson & Johnson“ (Suhrkamp), Thomas Hettches „Herzfaden“ (Kiepenheuer & Witsch), Charles Lewinskys „Der Halbbart“ (Diogenes), Deniz Ohdes „Streulicht“ (Suhrkamp), Leif Randts „Allegro Pastell“ (Kiepenheuer & Witsch), Stephan Roiss‘ „Triceratops“ (Kremayr & Scheriau), Robert Seethalers „Der letzte Satz“ (Hanser Berlin), Eva Sichelschmidts „Bis einer weint“ (Rowohlt), Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“ (Matthes & Seitz), Olivia Wenzels „1000 Serpentinen Angst“ (S. Fischer), Frank Witzels „Inniger Schifbruch (Matthes & Seitz), Iris Wolffs „Die Unschärfe der Welt“ (Klett Cotta), Jens Wonnebergers „Mission Pflaumenbaum“ (Müry Salzmann) und Christine Wunnickes „Die Dame mit der bemalten Hand“ (Berenberg).
Was zunächst auffällt: Die von den Literaturhäusern in Zusammenarbeit mit den Buchhandlungen gestartete Kampagne „Zweiter Frühling“, die für Bücher aus der durch die Corona-bedingten Handelseinschränkungen stark geschädigten Frühjahrsproduktion noch einmal Aufmerksamkeit schaffen will, hat bei der Jury nicht verfangen. Zehn Titel, also genau die Hälfte, stammen aus dem Herbst, sind also gerade erst oder noch gar nicht erschienen. Die gleichfalls von den Kommentatoren immer argwöhnisch beäugten Geschlechts- und Verlagsverhältnisse lauten diesmal wie folgt: neun Autorinnen und elf Autoren, Bücher aus insgesamt sechzehn Verlagen, wobei es jeweils Doppelnominierungen bei Suhrkamp, Kiepenheuer & Witsch, S. Fischer und Matthes & Seitz gab. Aber das alles ist ja bloße Statistik.
Geisterverlehung geplant
Wie steht es um das, was wirklich zählt: die Inhalte? Einiges war erwartbar, etwa die Nominierung von Olivia Wenzel mit ihrem Debütroman. Da kommt alles zusammen, was derzeit identitätspolitisch en vogue ist: autobiographisches Schreiben, schwarze Selbstbewusstwerdung, ostdeutsche Transformation, Trump, Rechtsradikalismus. Das Ganze knapp und dennoch zeithistorisch ausgreifend. Andere, auch durch Prominenz übliche Verdächtige auf den Sieg sind mit Robert Seethaler, Thomas Hettche, Bov Bjerg und Frank Witzel dabei. Besonders qualitätvolle Romane haben Anne Weber und Christine Wunnicke geschrieben. Und von den weniger überzeugenden Romanen des Jahres sind leider auch noch welche dabei. An erfolgreichen Büchern des Frühjahrs vermisst man Ingo Schulzes „Rechtschaffene Mörder“ und Lutz Seilers „Stern 101“, aber die waren ja schon in Leipzig nominiert (wo Seiler gewann). Überraschend ist an all dem wenig, aber auch das ist ja Normalität im Buchpreisgeschehen und somit diesmal durchaus erwünscht.
Das Rätselraten, wie diese Liste zustande kam und wer davon es in vier Wochen wohl auf die dann nur noch sechs Titel umfassende Shortlist schaffen wird, wird uns ein hochwillkommenes Stück Normalität bieten. Und das ist ja schon einmal eine Leistung. Wurde doch der für dieses Jahr neu angekündigte Deutsche Sachbuchpreis, der vom Börsenverein des deutschen Buchhandels nach denselben Prinzipien konzipiert worden ist wie der seit 2005 verliehene Buchpreis für Romane, wegen der Pandemie kurzerhand abgeblasen und aufs nächste Jahr verlegt. Eine Bankrotterklärung der anderen Art.
Eines indes wird sich bei aller formalen Kontinuität des diesjährigen Buchpreis-Ablaufs doch noch ändern: Die für den 12. Oktober vorgesehene Bekanntgabe des Siegers wird weitgehend ohne Publikum stattfinden, damit der angestammte Ort im Kaisersaal des Frankfurter Römers weiterhin für die Verleihungszeremonie genutzt werden kann. Da passen unter den erwartbaren Abstandsbedingungen eben nicht einmal vierzig Menschen hinein, und die sind mit den Shortlist-Autoren plus jeweils einem Verlagsbegleiter, den Juroren, Vertretern der Preisausrichter und dem notwendigen technischen Personal wahrscheinlich schon voll ausgeschöpft. Man kennt das Phänomen aus der Champions League: Geisterspiele, hier eben Geisterverleihung. Ob die telegene Szenerie des Kaisersaals dieses Opfer wert sind, wo es doch in Frankfurt mehr als genug viel größere Räume gegeben hätte, in die man selbst die bislang übliche Zahl von Gästen unter geltenden Abstandsregeln hineinbekommt (Messe- oder Kongresshallen), wird dann die Live-Übertragung des Ereignisses zeigen. Immerhin hat man damit beim Deutschen Buchpreis Erfahrung von Beginn an, so dass es wohl kein Fiasko geben wird, wie es bei der Rundfunkausstrahlung der Verleihung der Preise der Leipziger Buchmesse im vergangenen März der Fall war. Der ganze Rest liegt dann am Gewinnerbuch.