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Energiewende im Roman : Literatur unter Strom

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Die literarische Energiewende Bild: dpa

Energie ist eine Sache kultureller Ausdrucksformen und Bewegung. Das schlägt sich seit bald vierzig Jahren in deutschen Romanen nieder, die auf unterschiedliche Weisen das behandeln, was wir heute Energiewende nennen. Ein Gastbeitrag.

          7 Min.

          Baden-Württemberg um das Jahr 1980, die Gegend östlich von Tübingen: Reutlingen, Metzingen, Eningen, die Schwäbische Alb. Georg Landerer ist ein Mann gerade jenseits seiner besten Jahre und übt den aussterbenden Beruf des Schriftsetzers aus. Dem Trübsinn verfallen, gibt er das Handwerk auf, verlässt Frau und Familie (die Kinder sind erwachsen). Das Land aber verlässt er nicht, obwohl ihm auch die damalige Bundesrepublik gehörig Frustration einflößt: „Plötzlich stimmte nichts mehr. Die Arbeit verlor ihren Sinn. Jedes Gespräch verletzte mich, bevor es geführt wurde... Die Nachrichten im Fernsehen bestätigten mir meinen Zustand.“

          Peter Härtlings Roman „Das Windrad“, in dem Georg Landerer Hauptfigur ist, folgt der Depression und der biographischen Desorientierung seines Protagonisten durch die herbsttrüben Orte und über die Regenhänge der Schwäbischen Alb. Auflockerung, den neuen Luftzug verschafft erst ein zweiter Akteur: der Bildhauer Kannabich, eine federnde, mitunter manische Figur, mit der Härtlings Erzählung in den Lauf der jungen Energiewende einbiegt. Denn der Künstler plant ein Windrad auf den Hängen der Alb zu errichten, ein Windrad, „das, ganz gleich, wie viel Strom es erzeugen werde, ein großes Kunstwerk sei“. Es ist die Figur des bildenden Künstlers, mit der das Thema der erneuerbaren Energien vor nunmehr 35 Jahren in die deutsche Literaturgeschichte eingeführt worden ist. Noch war sie zur Hälfte ein Kunstprojekt: die „Energiewende“.

          Eine Sache kultureller Ausdrucksformen

          Auch diese Bezeichnung ist eine Schöpfung aus dem Südwesten der Republik. 1980 veröffentlicht ein interdisziplinäres Autorentrio des Öko-Instituts Freiburg, Florentin Krause, Hartmut Bossel und Karl-Friedrich Müller-Reissmann, einen Bericht mit dem Titel „Energie-Wende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“. Dieses historische Dokument, ein kleinformatiger Band in leuchtendem Orange, ist wie Härtlings Roman Zeugnis einer ökologischen und energietechnischen Gegenkultur, die aus den Anti-Atomkraft-Kundgebungen und der Umweltbewegung hervorging. Die frühesten ästhetischen Zeugnisse der neuen Energien müsste man wohl in den Protestzügen und auf den Demo-Plätzen dieser Zeit suchen: etwa in der Plakatkunst oder im Liedgut.

          Auch Härtlings Buch führt in diese Sphäre: Das Windenergieprojekt wird obrigkeitlich verboten, die Polizei marschiert bereits auf, während Kannabich in luftiger Höhe am Windradturm schweißt und sich an dessen Fuß eine demonstrierende Menschenmenge für die Fortsetzung des Baus einsetzt. Durch ein so seltsames Verb wie „schunkeln“ gelingt es dem Text, deren enormen Emotionalisierungsgrad zu bestimmen: Die „Menschenketten begannen sich hin und her zu bewegen, zu schunkeln, Ornamente zu bilden, wie nach einer unhörbaren Musik... einige fingen an zu singen, sangen erst gegeneinander, dann miteinander.“

          Diese Windrad-Performance spürt intensiv den symbolischen Kräften nach, die sich mit den neuen Energien verbreiten mussten, und legt zugleich offen, dass Energie eine Sache kultureller Ausdrucksformen und Bewegung ist. Die Literatur ist deren Seismograph, sie macht seit fast vier Jahrzehnten den kulturellen und affektiven Begleitstrom sichtbar, der die Energiewende umspielt und bis in die Gegenwart reicht: in unsere Besorgnis um das Klima, in den ökologischen Projektgeist oder, vitaler denn je, in die Protestkultur, die sich 2018 vor allem auf und unter alten Bäumen zeigte.

          Die Jahre der großen Proteste

          Dem bundesrepublikanischen Zeitgeist und den Energieprotesten um 1980 widmet sich auch ein viel jüngerer Roman. Nicol Ljubic entwickelte 2017 in „Ein Mensch brennt“ eine Retrospektive auf den grünen Widerstand in seiner radikalsten Form und begab sich dafür abermals in den Südwesten der Republik. Sein Roman folgt der Geschichte von Hartmut Gründler, einem Tübinger Lehrer und Umweltaktivisten, der sich im November 1977 aus Protest gegen die Atompolitik der damaligen SPD-Regierung selbst verbrannt hat. Präzise und geduldig wird ein ethisches Paradox entfaltet: Ljubic zeigt, wie sich eine durch und durch philanthropische Idee verhärtet und zum Quell schneidender Tristesse wird.

          Anders der Rückblick von Monika Maron, die, nachdem sie sich bereits 1980 im Roman „Flugasche“ mit der giftigen Kohlekraft unter DDR-Bedingungen auseinandergesetzt hatte, im Jahr 2010 den literarischen Bericht „Bitterfelder Bogen“ veröffentlichte. Darin erzählt sie vom Aufstieg des Solar-Unternehmens Q-Cells, das, so die damalige Vision, im sachsen-anhaltinischen Bitterfeld die Bildung eines solar valley einleiten sollte. Die Sympathiefigur des Textes ist der früh verstorbene Q-Cells-Gründer Rainer Lemoine. Auf einigen schönen Seiten beleuchtet Maron dessen Zeit als Energiepionier Anfang der achtziger Jahre.

          Ausgesehen habe Lemoine wie John Lennon, er studierte an der TU Berlin und gründete mit Gleichgesinnten das Ingenieurskollektiv Wuseltronik, das einen Gewerbekomplex in Kreuzberg besetzt hielt und mit energietechnischen Erfindungen beschäftigt war. Wuseltronik stand für Wind- und Sonnenelektronik: „Es waren die Jahre der großen Proteste, der Teach-ins, Sit-ins, der Demos und der Hausbesetzer. Lemoine und seine Freunde, nicht nur Atomkraftgegner, sondern eben auch Ingenieure, fanden, es genüge nicht, immer nur dagegen zu sein; man müsse auch etwas tun. Der Name Wuseltronik bezeugt beides, die chaotisch-fröhliche Atmosphäre dieser Jahre und das ernsthafte Vorhaben.“ So Monika Maron.

          Mehr als fünftausend Beiträge im „Techniktagebuch“

          Während in den späten Achtzigern und unter dem Eindruck von Tschernobyl (April 1986) noch einige zentrale Texte, etwa von Christa Wolf oder Gabriele Wohmann, erscheinen, wird es danach literarisch ruhiger um Energie- und Umweltthemen. Zu den Gründen dafür zählen zwei Großereignisse: Zum einen band die Wiedervereinigung die literarischen Kapazitäten, zum andern faszinierten die Innovationen eines anderen technischen Bereichs: Die Literatur entdeckte das digitale Leben. Sie blieb, wie die Popliteratur zeigt, technikaffin, vollzog aber die Ankunft im Informationszeitalter.

          Als eine Art Kulminationspunkt dieser Entwicklung kann das von Kathrin Passig 2014 begründete und seitdem betreute „Techniktagebuch“ angesehen werden. Es dauert eine Weile, bis man den monumentalen Charakter dieser Online-Chronik umrissen hat. Man blickt dann auf ein beeindruckendes Zeugnis des Lebens mit digitalen Artefakten: Das Techniktagebuch umfasst gegenwärtig mehr als siebentausend Seiten, die mit mehr als fünftausend Beiträgen von rund vierhundert Autoren und Autorinnen gefüllt wurden. Auf die Frage hin, welche Arten von Energie und Strom durch die erwähnten Gerätschaften fließt, fördert die Suchfunktion eher kleine Textmengen zutage.

          Die Narrative der Energie entstehen in den Jahren um 2010 eher auf Seiten der Politik. Nach den langwierigen Diskussionen und Volten in Sachen Atomausstieg wird in Folge der Katastrophe von Fukushima am 11. März 2011 jene Energiewende beschlossen, die wir heute erleben und die, trotz allen weiteren Diskussionen, breiten gesellschaftlichen Konsens erfährt. Der Umstieg auf erneuerbare Energien wird in den Jahren nach 2011 mit der Geste historischer Herausforderung vorgebracht. So etwa von Peter Altmaier, dem damaligen Bundesumweltminister: Er setzte die deutsche Energiewende mit der amerikanischen Mondlandung gleich. Sein Bundesumweltministerium entwarf ein globales Ethos: Die Energiewende „beinhaltet die einmalige Chance, der Welt ein Beispiel zu geben, wie Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit in einer führenden Industrienation vereinbart werden können.“

          Dorfroman „Niemand ist bei den Kälbern“

          Reichen diese politischen Energien bis in die literarischen Texte? Die Literatur griff das Thema erst wieder auf, als das Pathos bereits verflogen war, und findet seitdem ganz eigene Wege. Anstatt sich Zukunftsprojekten und den Herausforderungen der Geschichte zuzuwenden, verlegt sie sich geradezu darauf, ins Abgelegene zu blicken. Dabei kommt sie der Windkraft auf die Spur. Dezentralität könnte das Stichwort lauten, das man den neuen Energiesystemen und der Topographie der literarischen Entwürfe gleichermaßen anheften kann. Das Erzählen unternimmt also einen Gang in die Fläche und entspinnt sich auf den Flecken der Provinz.

          2016 zählte der Gesellschaftsroman „Unterleuten“ zu den großen deutschen Publikumserfolgen. Juli Zeh siedelt ihren Stoff im Abseits prosperierender Zentren, im flachen Nordosten Deutschlands an. Das Dorf mit dem Namen Unterleuten ist zu weit vom Berliner Speckgürtel entfernt, um von der dortigen Dynamik etwas abzubekommen. Statt historischer Projekte machen sich eklatante Strukturschwächen bemerkbar.

          Unterleuten ist ein von staatlicher Daseinsvorsorge vernachlässigter, ja vergessener Raum. Auf beinahe jeder Seite und in jeder Facette von Zehs Roman wird deutlich, dass neoliberales Gewinnstreben – dazu zählen moderne Windparks – definitiv kein Strukturkonzept darstellt. Man trifft auf eine gewisse Ausdünnung, zumeist auf derangierte Gestalten, so unstet und wechselhaft wie der Wind, der über das flache Land weht. Gleiches gilt für den 2017 erschienenen Dorfroman „Niemand ist bei den Kälbern“, das Debüt von Alina Herbing. Auch hier die Provinz, ein Dorf im Nordosten der Republik, und die dezentrale Leitmotivik: abgelegen und zugleich abgehängt.

          Kleine und unangenehme elektrostatische Blitze

          In starken Bildern begleitet Herbing eine nicht gut endende Liebesgeschichte zwischen einem Windkraftarbeiter und einer jungen Frau aus dem Dorf: Klaus und Christin. Dieser Stoff aus der Provinz findet nicht Zentrum und Herzschlag in Projektfiguren wie Landerer, Kannabich oder Lemoine. Unter den Windradtürmen macht sich nicht historischer Projektgeist, sondern eine schüttere Posthistoire breit. Es sind nicht Projekte, es sind schlicht Affekte, die das Geschehen bestimmen: Christin, die junge Heldin, wird emblematisch als Emma Bovary des Windkraftzeitalters und seiner Landschaften vorgestellt. Der Ton bleibt eher leise, dennoch sind diese Texte klar vernehmbare Fürsprecher ihrer dörflichen Schauplätze.

          Noch mehr Lieblingsstücke
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          Eine Auswahl von Beiträgen unserer Kolumne „Mein Lieblingsstück“ ist bei Busse Seewald erschienen.

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          Zukünftige Eskalationen finden sich hingegen – endzeitlich die Zähne bleckend – in Karen Duves Satire „Macht“ aus dem Jahr 2016, in der selbst die zur Ökodiktatur umgebaute Energiewende die Klimakatastrophe nicht stoppen konnte, oder – gleichnishaft und nach allen Regeln manieristischer Erzählkunst entfaltet – bei Eckart Nickel. Sein Roman „Hysteria“ von 2018 widmet sich der strikten Bio-Kultur und -Kulinarik von übermorgen. Köstliche Dinge, Himbeeren und Wagyu-Rinder, haben plötzlich den schlechten Schein des Künstlichen und Simulierten, letztlich aus einem einfachen Grund: weil sie es sind. Im Zuge dieser unheimlichen Speisefolge setzt Nickel auch die Energie wieder auf die Karte. Überall brummt es.

          Das allgegenwärtige Geräusch von Transformatoren und Elektromobilen ist Teil eines Stoffwechsels der Zukunft. Fast erwartet man, dass kleine und unangenehme elektrostatische Blitze von jeder Berührung ausgehen. Durch diese Welt, die neuerlich in den Südwesten der Republik, mutmaßlich nach Heidelberg, verlegt wird, schickt Nickel einen Mann namens Bergheim: eine in den Midlife-Jahren stehende, hypersensible, hochgebildete, schrullige, aber durch stetes Hinterfragen und Zweifeln im Grunde aufklärerische Figur. Dem Leser der Energiewende-Literatur erscheint dieser Bergheim wie ein vielfach gebrochenes, aber durchaus vitales Echo auf jenen Landerer, den Georg Härtling auf seine Promenaden über die Schwäbische Alb schickte. Nicht jung an Jahren, aber sich immer wieder verjüngend durch die Geste ihres steten Zweifels. Zwei vorbereitende Figuren, die auch nach einem kulturellen Fundament für die neuen Energien und ihre technischen Finessen suchen.

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