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Peter Stamm übers Bahnfahren : Die Romantik der Lokomotiven

  • -Aktualisiert am

Rückblick auf den Beginn des Eisenbahnverkehrs: Der englische Winter Cumbrian Mountain Express überquert das Ribblehead Viaduct im britischen Yorkshire Dales National Park. Bild: dpa

Wir alle kennen die Geräusche der Eisenbahn. Doch heute klingt Zugfahren anders als in Büchern oder Filmen. Zeit für einen neuen Blick auf ein Fortbewegungsmittel, mit dem sich Träume verbinden. Ein Gastbeitrag.

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          Judith blättert im Buch, während wir mit 317 Stundenkilometern über die französischen Ebenen rasen. Noch zwei Stunden und sieben Minuten. Früher machten Züge dieses schöne, einschläfernde Geräusch, tada, tada, tada, tada, aber seit die Gleise verschweißt werden, das hat mir mal ein Ingenieur erklärt, hört man nur noch ein homogenes Geräusch, ein bisschen klingt der TGV wie eine Waschmaschine. Es müsste einen Soundtrack zum Herunterladen geben, Bahngeräusche, man könnte wählen zwischen europäisch, transsibirisch, amerikanisch; bei amerikanisch kämen dann noch diese Hörner hinzu, die man aus Filmen kennt, huu huuu, dann Bergbahn, Zahnradbahn, Straßenbahn vielleicht . . . natürlich gibt es das, Zuggeräusche im Internet. Mehr als genug. Zehn Stunden Zugfahrt durch einen Winterwald in Sibirien. Da ist das Geräusch noch zu hören, das tada, tada, tada, tada. Und vor dem vereisten Fenster verändert sich nichts, rein gar nichts, nicht einmal das Licht. Tada, tada, tada, tada, tada . . . Ich habe nicht die ganzen zehn Stunden geschaut, bin gesprungen, vielleicht habe ich ein Bahnwärterhaus verpasst oder ein Schneehuhn oder einen Bahnübergang, aber es macht nicht den Anschein. Ein Sergey hat das hochgeladen und immerhin 109 000 Menschen haben es sich angeschaut.“

          Das ist ein Ausschnitt aus meinem nächsten Roman, der in einem Monat erscheinen wird. Wie Andrea geht es vielen, sie lassen sich von Hochgeschwindigkeitszügen durch Europa tragen und träumen dabei von der guten alten Zeit, als die Eisenbahn noch romantisch war, als es Dampflokomotiven gab, Bahnwärter und offene Wagenübergänge, als die Fenster sich noch öffnen ließen. Diese Diskrepanz gibt es bei allen Verkehrsmitteln, auch der Oldtimer ist romantischer als das Elektroauto, der Doppeldecker hübscher als der A 380, auch der Dreimaster verzaubert uns mehr als das moderne Kreuzfahrtschiff, aber nirgends ist der Gegensatz so stark wie bei der Eisenbahn. Die Züge in Kinderbüchern sehen meist immer noch aus, als stammten sie aus dem Museum. Als Thomas the Engine, die berühmteste Dampf­lokomotive der Kinderliteratur, 1945 er­funden wurde, fuhr sie noch ganz selbstverständlich mit Dampf. Die Elektrifizierung hat sie bis heute nicht mitgemacht.

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