
Digitalisierungs-Kommentar : Hilflosigkeit und Handlungsdruck
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Die Debatte um das Lesen und die Digitalisierung leidet unter ihrer Polarisierung. Was auf dem Spiel steht, wenn wir die Fähigkeit zum vertieften Lesen verlieren, fehlt ihr insgesamt.
„Es kam mir so vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte.“ Es ist ein Leseeindruck, mit in den Schlaf genommen, den Marcel Proust zu Beginn seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ schildert. Sich in einem Buch zu verlieren, mit ihm, in ihm zu leben für die Zeit der Lektüre: Das gehört zu den großen beglückenden Erfahrungen des Lesens, zu Erfahrungen, die, wie Leseforscher warnen, durch den digitalen Wandel auf dem Spiel stehen. Je nach Fokus sehen sie wachsende Schwierigkeiten, uns einen Teil unseres kulturellen Schatzes, den der Literatur, zu erschließen, oder allgemein eine Gefährdung vertiefter Auseinandersetzung bis hinein in die politische Willensbildung: Wer sich leicht ablenken lässt oder Texte nur noch überfliegt, wird weder beschriebene Figuren in sich zum Leben erwecken noch den Abwägungen einer differenzierten Darstellung nachgehen können.
Schon bei der Buchmesse 2017 hatten Wissenschaftler diesen Befund bei einer Diskussion über die Zukunft des Lesens vorgestellt – worauf ihr Gesprächspartner aus der EU-Kommission antwortete, ihn interessierten hinsichtlich des Lesens lediglich Antworten auf zwei Fragen: Was machen wir mit den funktionalen Analphabeten, die ihre Leseschwäche ausgrenzt, und was mit den Eingewanderten mit ihren ganz ähnlichen Schwierigkeiten?
Man sollte diese Probleme nicht gegeneinander ausspielen, die Dringlichkeit des einen macht das andere nicht zum Randthema. Die Digitalisierung, auch das ist ein Befund der Forschung, eröffnet nicht etwa nur schwerfälligen Lesern, die sich mit ihren Smartphones umso leichter tun, Zugänge zur ungewohnten Kulturtechnik. Aber die Frage, welche Zielgruppe von welchem Textangebot auf welchem Lesemedium mit welchem Ziel am besten erreicht werden kann, hat es schwer in der erhitzten Debatte: Auch hier sehen manche Befürworter umstandsloser Digitalisierung in jedem Einspruch den lächerlichen Widerstand unbeweglicher Bedenkenträger, während Kritiker der Digitalisierung der Gegenseite vorwerfen, ignorant kulturelle und gesellschaftliche Errungenschaften zu beschädigen. Die Differenziertheit, die mit dem vertieften Lesen auf dem Spiel steht, haben wir bei der Debatte um die Digitalisierung schon verloren.
Viele Lehrer sind hilflos, viele Eltern sind ratlos
Kein Wunder, dass Leseforscher hier von ihrer größten Herausforderung sprechen: Menschen zu informieren, die sich längst auf eine Seite geschlagen haben, wo es gar keine Seiten geben sollte. Denn die Digitalisierung und das digitale Lesen prägen unseren Alltag, ob wir es nun wollen oder nicht. Neben den funktionalen Vorzügen digitaler Texte stehen Einsatzmöglichkeiten mit Gewinn – für Erwachsene, aber auch für Kinder. Dass Bildschirmleser ihre Fähigkeiten überschätzen, das vor allem unter Zeitdruck Gelesene behalten zu können, schwächt diese Vorzüge nicht. Dass das menschliche Erinnerungsvermögen an Sinneswahrnehmungen gebunden ist, die beim Bildschirmlesen zu kurz kommen, steht dem nicht entgegen. Die Smartphones als populärste Lesegeräte bieten ein Maß an Ablenkung, das vertieftes Lesen massiv behindert: Auch dieser Befund negiert die Vorzüge digitalen Lesens nicht, sondern sollte angegangen werden. Doch auf eine Einstellung bei Lese-Apps, die alle Eilmeldungen für die Dauer der Lektüre ausblendet, warten wir bislang vergeblich. Viele Smartphone-Nutzer haben die Ablenkungsangebote ihrer Geräte bereits internalisiert: Sie lesen auch auf Papier flüchtig. Und jede Lektüre leidet, wenn das Smartphone dabei in Sicht- und Griffweite – und im Kopf – bleibt.
Politiker sehen sich unter Handlungsdruck, schlagen, so die Erfahrung vieler Wissenschaftler, Angebote zum Austausch aus oder treffen bildungspolitische Entscheidungen auch gegen den Expertenrat. Viele Lehrer sind hilflos, viele Eltern sind ratlos. Dabei sind sie es, die nicht nur mit ihrer Medienerziehung, sondern auch mit dem eigenen Verhalten den Lesern von morgen Orientierung geben.
Was eine informierte Debatte am dringendsten braucht
Und die Buchbranche? Die Ratlosigkeit, mit der sie vor den Herausforderungen der Digitalisierung steht, lässt sich mit zwei Szenen aus den vergangenen Messetagen illustrieren: „Das Interesse, ja eine regelrechte Sehnsucht nach dem Buch, nach vertiefter Beschäftigung und fundierten Inhalten, nach Entschleunigung und einer Auszeit“ sei da, stellte Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, in seiner Eröffnungsrede fest. Zwei Tage später prämierte sein Verband in Gestalt eines „Accelerators der Content-Branche“ ein Angebot, dem Leser ebendiese vertiefte Auseinandersetzung zu ersparen, indem es „die wichtigsten Informationen aus Inhalten extrahiert und damit die Informationsflut überschaubar macht“.
Das Lesen sollten wir uns nicht abnehmen lassen, auch nicht mit dem Versprechen der Zeitersparnis. Die Frage ist nicht, woran die Zeit verlorenging, die zuvor zum Lesen genutzt wurde. Den Weg, diese Zeit zurückzugewinnen, muss jeder Leser für sich gehen. Auf die Frage, was eine informierte Debatte über Lesen und Digitalisierung am dringendsten brauche, lautet eine Antwort aus der Forschung: die Entwicklung und Vermittlung von Strategien der Selbstkontrolle – für Kinder wie für Erwachsene.