Neue Blüte der Poesie : Wo die Lyrik der Ökonomie weit voraus ist
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Was aussieht wie eine bunte Blumenwiese, ist in Wahrheit die Computersimulation menschlicher Gehirnströme. Bild: Hermann Cuntz
Seit zwei Jahrzehnten blüht die deutschsprachige Dichtung. Es gibt eine Fülle hochkarätiger Lyrikbände. Was hat sich da entfaltet?
Alle Anzeichen sprechen dafür: In Zukunft wird man die ersten zwei Jahrzehnte des einundzwanzigsten Jahrhunderts als Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik bestaunen. Die Frage an uns Leserinnen und Leser wird lauten: Wie war das damals eigentlich? Du warst doch dabei! Du warst mittendrin, in der Fülle hochkarätiger Gedichtbände, umgeben von der Vielfalt großartiger Lyrikerinnen und Lyriker. Das muss doch eine unfassbar aufregende Erfahrung gewesen sein. Kurioserweise sieht es so aus, als müssten die meisten von uns dann auf eine von drei Standardantworten ausweichen. Die einen werden sagen: „Ja, stimmt. Da war etwas. Aber ich habe vor allem Romane gelesen und Serien geschaut. Von der Lyrik habe ich nichts mitbekommen.“ Die anderen werden antworten: „Als ich beginnen wollte, Lyrik zu lesen, hatte ich schon zu viel vom Boom verpasst. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mitten im Lyrikgewimmel anfangen sollte. Also habe ich es gelassen.“ Und die dritte Antwort wird lauten: „Ich habe es versucht und voller Neugier angefangen zu lesen. Aber mir blieb das alles fremd. Also habe ich die Lektüre abgebrochen.“
Bevor es so weit kommt, ist jetzt, nach fast zwei Jahrzehnten poetischen Wachstums und lyrischen Blühens, ein guter Zeitpunkt, um einen Schritt zurückzutreten und zu sichten, was sich da entfaltet hat. Wer waren die wichtigsten Akteure? Welche Eigenschaften zeichneten ihre Lyrik aus? Auf welcher Grundlage beruhten ihre Arbeiten? Woran schlossen sie an, was machten sie neu? Was sind die Hintergründe der rasanten Entwicklung? Kurz gesagt: Es ist an der Zeit, Revue passieren zu lassen, was bisher geschah. Aber warum Lyrik?
Der Aktualitätsstromschlag
Flankiert von der Popliteratur einerseits, von der lyrischen Avantgarde andererseits, formierten sich die Möglichkeiten und die Aufgaben für jene Gegenwartslyriker, die ihre Schreibkarrieren um das Jahr 2000 begannen. Von der Seite der Pop- und Konsumkultur stellte sich die Frage: Wie konnte man die Lyrik, die in der Popwelle der neunziger Jahre keine Rolle spielte, wieder lebendig machen, ohne in naiven Realismus zu verfallen? Wie bekam die Lyrik wieder Kontakt mit den pulsierenden Themen und Diskursen der eigenen Zeit? Gab es dafür Figuren, Szenen, Sprachformen, Vokabeln, Redeweisen oder Verfahren? Konnte man dafür einen lässigen, leichten, eingängigen Ton finden und Rhythmen und Melodien entwerfen, die sich sofort nach der eigenen Lebenswirklichkeit anfühlen?
Der Lyrik einen Aktualitätsstromschlag zu verpassen war die erste Aufgabe. Hieß das in Hinblick auf Sujets und Verfahren einfach nur Rolf Dieter Brinkmanns Programm einer „neuen Subjektivität“ für das angehende einundzwanzigste Jahrhundert aufwärmen? Sollte man die Arbeit von Rainald Goetz und Thomas Meinecke ein paar Jahre verspätet auf dem Feld der Lyrik wiederholen? Tatsächlich klangen die Anfänge der neuen Lyrik stark nach Brinkmann. Den Eindruck bekommt man, wenn man Tom Schulz’ „Abends im Lidl“ liest oder Matthias Göritz’ Trilogie „Loops“, „Pools“ und „Tools“.
Leser gefangen in sprachlichen Parcours
Bei Brinkmanns versiertem Realismus, dem Gegenmodell des „naiven Realismus“, hatten noch alle sprachlichen Verfahren der glänzenden Oberfläche und den fotografischen oder filmischen Bildeffekten unterworfen zu sein. Seine Lyrik war in klarer Ablehnung gegenüber jedem (von ihm gerne beschimpften) selbstgenügsamen, leblosen, sich in immer luftigere Abstraktionshöhen schraubenden Avantgardegestus der high modernity gedacht. Das Prinzip war: Nur nicht in den Verdacht der Benn-Nachfolge geraten. Allergisch reagierte Brinkmann auf Konzeptlyrik, die selbst gesetzte Experimentvorlagen durchspielte, oder auf die textvisuellen Parcours und Installationen der konkreten Poesie.