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Büchnerpreis-Verleihung : Darmstadts Dackelwunder

  • -Aktualisiert am

Bitterböser Sprachwitz mit großer Lust an der Häme und plötzlich einbrechende, existenzielle Rührung: Sibylle Lewitscharoff nimmt in Darmstadt den Büchnerpreis entgegen Bild: Rainer Wohlfahrt

Mehr als ein Festakt zur Verleihung des Büchnerpreises an Sibylle Lewitscharoff: Auf ihrer Herbsttagung denkt die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung über allerlei Tellerränder hinaus.

          3 Min.

          Die beste Nachricht zuerst – Pong lebt noch. Oder, genauer gesagt: Die Figur aus Sibylle Lewitscharoffs groteskem Kurzroman von 1998 wurde von ihrer Schöpferin wiederbelebt, wie man am Freitagabend in der Darmstädter Orangerie bei einer Lesung der diesjährigen Büchnerpreisgewinnerin mit wohl allgemeiner Erleichterung vernahm: Der Kerl hat sich beim Sturz vom Dach nur ein Bein gebrochen und liegt nun grantelnd in einem Krankenhausbett. Als er dort einen Zimmernachbarn bekommt, löst das zunächst lauter skeptische und misanthropische Überlegungen aus, bis die Geschichte eine überraschende Wende nimmt: Die „maligne Kröte“ im Nachbarbett erweist sich als überaus höflicher Zeitgenosse, Pongs Abwehr wandelt sich in tiefe Zuneigung und wird schließlich zu Empathie und furchtbarer Angst, als der Nebenmann plötzlich auf die Intensivstation verlegt wird.

          Jan Wiele
          Redakteur im Feuilleton.

          Da hatte man wieder die Essenz der Schriftstellerin Lewitscharoff: den bitterbösen Sprachwitz mit großer Lust an der Häme und die plötzlich einbrechende, existenzielle Rührung, wie man sie in vielen ihrer Romane finden kann. Als am Samstag Sibylle Lewitscharoff dann im Staatstheater Darmstadt ihren Büchnerpreis erhielt, würdigte die Kritikerin Ursula März sie in ihrer brillanten Laudatio als Verteidigerin einer Literatur der ästhetischen und sprachlichen Pracht, die aber nicht kühl bleibe, sondern immer wieder auch durch die „kunstvoll überarbeitete Mitteilung von Not und Schrecken“ auffalle. Für das Tröstliche in Lewitscharoffs Werk fand Ursula März ihrerseits ein so amüsantes wie rührendes Beispiel: Sie wies auf den im Schatten des mächtigen Phantasielöwen aus dem Roman „Blumenberg“ bisher weniger beachteten Dackel namens Schnacks hin, der zum Symbol des Trösters und Retters werde, so dass man etwas vermessen fast von einem „Dackelwunder“ sprechen könne.

          Zum Singen gedacht

          Dass diese Dichterin eine würdige Trägerin des bedeutendsten deutschen Literaturpreises ist, daran kann kein Zweifel bestehen – ihre Büchnerpreisrede (zu lesen an diesem Montag im Feuilleton der F.A.Z.) wird sich allerdings auf lange Sicht neben so fundamentalen Poetologien wie Paul Celans Meridian-Rede etwas kurios ausnehmen.

          Aber ohnehin hätte es kaum eine bessere Gelegenheit als dieses Jahr geben, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung viel mehr ist als nur die Verleihung des Büchnerpreises – sie ist auch der Anlass für diese Akademie, sich Rechenschaft abzulegen über ihr vielfältiges Engagement, das etwa darin liegen kann, „Aufmerksamkeit für besorgniserregende Entwicklungen im kulturellen Leben eines europäischen Nachbarlands zu schaffen“, wie Akademiepräsident Heinrich Detering in Bezug auf den jüngst geführten Dialog bei den „Budapester Gesprächen“ sagte. Aufgabe dieser Akademie sei zu zeigen, „dass es bei rechtspopulistisch-nationalistischen, völkisch, antisemitisch oder homophob getönten Entwicklungen nicht nur um einzelne Länder geht, sondern um das Europa, zu dem wir alle gehören“.

          Um einen sehr wichtigen europäischen Belang ging es in Darmstadt auch bei der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa an Angelika Neuwirth, die mit ihrer bahnbrechenden Forschung zum Koran „das Gründungsdokument des Islam als einen auch europäischen Text verständlich werden lässt“, wie es in der Urkunde heißt. Einen Eindruck ihrer philologischen Arbeit konnte man schon bei ihrem Gespräch am Freitag mit dem Literaturwissenschaftler und ehemaligen Akademiepräsidenten Klaus Reichert bekommen. Dabei wurde aber auch sehr eindrücklich deutlich, was den Koran etwa von der Bibel unterscheidet: Er ist zum Singen gedacht, wie der Münchner Imam Benjamin Idriz anhand einiger Suren vorführte.

          Lob der „vollendeten Vergangenheit“

          Akademiemitglied Navid Kermani würdigte in seiner Laudatio Angelika Neuwirth dafür, dass sie den Koran „als Partitur für den gesungenen Vortrag“ und somit auch als poetischen Text ernstnehme. Indem sie die vielfältigen biblischen, platonischen, patristischen und talmudischen, aber auch altarabischen Bezüge im Koran aufspüre, werde erkennbar, „wie sehr er die gesamte Kultur des östlichen Mittelmeers eingeatmet hat“. Neuwirth selbst richtete in ihrer Preisrede den Blick auf Ausgrenzungsprozesse auch in der Philologie, die genau diese Einsichten lange verhindert haben. Koran-Philologie habe im Moment die „ganz konrete Aufgabe, einer Wiederholung von Geschichte, auch von Philologiegeschichte, noch rechtzeitig entgegenzuwirken“.

          Dass die Lob- und Preisreden im Theatersaal diesmal sehr besondere waren, galt schließlich auch für die Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises für literarische Kritik und Essay an Wolfram Schütte, in dessen Manuskript sich wohl mehr „&“-Zeichen fanden als in einem ganzen Roman von Arno Schmidt. Der prägende Redakteur des Feuilletons der „Frankfurter Rundschau“, der von Thomas Assheuer mit viel Esprit gewürdigt wurde, hielt eine Grundsatzrede über Filmkritik, die er zu einem sehr persönlichen Rückblick auf die ihm golden erscheinende Zeit um 1968 nutzte. Angesichts heutigen Fernsehmainstreams und Quotendrucks nannte Schütte diese Zeit allerdings „vollendete Vergangenheit“.

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