
Bibliothek des Schreckens
23. Februar 2021 · Das Grauen der Bücher aus der Schulzeit: Wer Kinder hat, darf manche dieser Meisterwerke im Homeschooling jetzt wieder lesen. Andere sind froh, das nie mehr tun zu müssen. Neun Erinnerungen an traumatische Schullektüren.
Wer soll das ernst nehmen, Gevatterchen?
Er war nicht „witzig“. Genauso wenig wie das sogenannte „Lustspiel“ (!) von Heinrich von Kleist, „Der zerbrochene Krug“, in Klasse 9F3 „lustig“ gewesen war. Es war sogar sehr unlustig. Von der ersten Seite an wurden dort kryptische Kalauer rausgehauen oder Merksätze wie „denn jeder trägt, den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst“, die wir laut vorlesen und uns dazu etwas einfallen lassen mussten. Diese Sätze, die hier alle so bedeutend sein sollten, versperrten aber völlig den Blick auf das, worum es eigentlich ging, und wieso dieser Richter Adam, der am Anfang offenbar aussieht, als habe man ihn zusammengeschlagen, seine nervige Perücke verloren hatte.
Dass die Figuren sich ständig „Gevatterchen!“ nannten, trug auch nicht gerade dazu bei, dass wir das Stück irgendwie ernst nahmen. Und klar, „Adam“ wollte was von „Eve“, und ein Herr „Licht“ wollte Licht in die Angelegenheit bringen. So weit, so originell. So schleppten wir uns von jedem bedeutungsschweren Satz zum nächsten. Und hätten es bestimmt viel besser gefunden, wenn Heinrich von Kleist, über den wir leider nicht erfuhren, dass er sich umgebracht hatte, „Tragödie“ über sein Stück geschrieben hätte; das hätte vielversprechender geklungen und viel mehr nach dem, wie wir uns gerade fühlten. Dann wäre auch gleich viel besser zu erkennen gewesen, dass dieser Adam nicht lustig, sondern ein ekliger Lustmolch war, der nur herumredete, um von sich selbst abzulenken.
Aber dahin kamen wir nicht, weil, was er sagte, einfach überhaupt nicht auszuhalten war, schon mal gar nicht, wenn wir das laut vorlesen mussten: „Ein Krug! So! Ei! - Ei, wer zerbrach den Krug?“ – „Wer ihn zerbrochen?“ - „Ja, Gevatterchen.“ Sätze, die vor allem bewirkten, dass, wenn von da an (eigentlich bis heute) irgendjemand in launigem Ton besonders bedeutungsvoll daherkam, man immer nur dachte: „Genau, Gevatterchen.“
Julia Encke
Gott, wo war das Problem?
Aber Herr Danzeglocke, unser verehrter Deutschlehrer, hatte vier Stunden für die Prüfung angesetzt. Vier Stunden? Das war ein Hinterhalt. Ich starrte zu Rolf, meinem besten Kumpel. Der zuckte bloß mit den Schultern. Alle schrieben wie die Teufel. Wir lachten hilflos. Die verstehen sich gut, oder?, zischte ich zu ihm. Die Kinder, die Vertrautheit. Rolfs Grimasse signalisierte: keine Ahnung. Wir wurden ermahnt. Die Ersten wechselten auf ein neues Blatt. Wir fingen an, uns mit Papierkügelchen zu bewerfen. Wurden erneut ermahnt. Noch drei Stunden. Wir versuchten, bei Nachbarn einen Blick zu erhaschen. Wurden „zum letzten Mal“ ermahnt. Noch zwei Stunden. Paul. Hildegard. Watzlawick. Südamerika. Ist doch schön, wer will da nicht hin? Das Geräusch über das Papier kratzender Füller. Moment! Paul wartet? Wieso eigentlich Paul? Paul Watzlawick himself? War das die Falle?
Noch 60 Minuten. Deutsch war mein Lieblingsfach, bei Klassenarbeiten schrieb ich mir die Finger wund, im Unterricht nervten Rolf und ich alle durch unsere Beteiligungswut. Und jetzt: Leere. Die letzten 45 Minuten. Die Ersten machten Pause und lasen ihre Konvolute durch. Rolf und ich starrten uns leicht hysterisch an. Daumen rauf? Ja! Die verstehen sich super. Wir gaben die kürzesten Texte der Klasse ab, ganz im Bichsel-Style. Bei der Rückgabe legte uns Herr Danzeglocke lachend die Arbeiten auf den Tisch: Wir beide hatten als Einzige von 35 das Verhältnis als gut interpretiert. Und das wohl nicht so überzeugend. Dafür gab es jeweils eine glatte 5. Meine einzige im Schulleben. Das war es für mich dann mit Kurzgeschichten.
Rainer Schmidt
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