Ausbruch des Ersten Weltkriegs : Die Selbstzerstörung Europas
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Kanonenfeuer in der Schlacht von Vimy, Mai 1917 Bild: Mary Evans Picture Library
Christopher Clark hat eine Studie über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasst: „Die Schlafwandler“ ist das Buch des Jahres. Und eine Mahnung an alle, die militärische Konflikte regional begrenzen wollen.
Eine nächtliche Kreuzung. Fünf Schwerlaster, die Tanks und Ladeflächen vollgepackt mit Explosivstoffen, rasen mit aufgeblendeten Scheinwerfern aus allen Richtungen aufeinander zu. Die Fahrer sind über Bordfunk miteinander in Kontakt, sie brüllen, drohen, fluchen, beschwören alte Freundschaften, appellieren an das Gewissen der anderen. Die Kreuzung kommt näher. Schon können sich die Fahrer gegenseitig am Steuer erkennen. Noch hundert Meter. Noch fünfzig. Ein letztes Aufheulen der Motoren. Die Scheinwerfer tauchen die Kreuzung in taghelles Licht. Schreien, Hupen, Gestikulieren. Noch zehn Meter. Noch fünf.
Bumm.
Es ist ein Bild, das sich irgendwann wie von selbst einstellt, wenn man Christopher Clarks neues Buch über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs liest. Das Bild eines Irrsinns, der keiner menschlichen Logik mehr folgt, nur dem Gesetz von Masse, Kraft und Beschleunigung. Und dem Prinzip der nationalen Ehre. Es war ja keine „Urkatastrophe“, die sich damals, im Juli und August 1914, abgespielt hat. Es war ein Amoklauf. Der vereinte Amoklauf Europas. Und Clark hat diesen Super-Crash wie ein geduldiger Kriminalist rekonstruiert, penibel, in allen Phasen, vom ersten Gasgeben bis zur Explosion.
Wie wenig die Apokalypse auslösen kann
Die zwölf Kapitel des Buches, das dabei entstand, füllen auf Deutsch ohne Anhang gut siebenhundert Seiten, und jedes davon ist ein Albtraum, ein Thriller, ein Horrorfilm in sich. Es ist das Buch des Jahres, nicht, weil es gerade rechtzeitig zum hundertsten Jubiläum des Kriegsausbruchs im nächsten Sommer kommt, sondern weil es auf absolut schlüssige Weise den Mechanismus erklärt, der diesen Krieg, den ersten modernen Massenvernichtungskrieg, ausbrechen ließ. Noch einmal, 1939, hat der Mechanismus funktioniert, aber seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seit der Entwicklung der Atombombe und der Gründung der Vereinten Nationen, scheinen wir von ihm erlöst zu sein. Clarks Buch zeigt, dass das eine Täuschung ist. Die Mechanik schläft nur. Zünder und Ladung liegen bereit. Man muss sie nur zusammenschrauben. Die Apokalypse ist möglich. Es braucht nicht viel, um sie auszulösen. Vor hundert Jahren war es ein Attentat. Heute könnte es ein Bürgerkrieg in Syrien sein.
Christopher Clark sitzt im Café „Einstein“ in Berlin und erzählt von einem Traum, den er beim Schreiben seines Buches immer wieder geträumt hat. „Ich bin in England, und ich weiß, dass der Krieg ausbrechen wird. Ich sage zu meiner Frau: Wir müssen unsere Jungen ins Ausland bringen, sonst werden sie eingezogen. Eine ganze Generation wird durch diesen Krieg zerstört werden. Meine Söhne aber sagen, Daddy, du übertreibst, du nimmst das alles viel zu ernst. Ich versuche verzweifelt, sie zu überzeugen, doch sie hören mir nicht zu. Und dann erwache ich mit klopfendem Herzen.“
Ein Buch, das Unruhe stiften wird
Fünf Jahre hat Clark an den „Schlafwandlern“ (DVA, 39,99 Euro) geschrieben. Es ist, nach seinem „Preußen“-Buch von 2006, Clarks zweite große Attacke gegen ein Dogma der Geschichtswissenschaft. Der preußische Staat galt als Hort allen Übels in der deutschen Geschichte: Militarismus, Imperialismus, Größenwahn. Clarks Studie zeigte, dass er das nicht war. Was den Ersten Weltkrieg angeht, hat sich unter Historikern seit den sechziger Jahren Fritz Fischers These von der überwiegenden deutschen Kriegsschuld durchgesetzt. Bei Clark kann man nun nachlesen, dass das Kaiserreich genauso schuldig oder unschuldig am Ausbruch des Krieges war wie alle anderen europäischen Großmächte: Russland, Frankreich, Österreich-Ungarn und England.
„Die Schlafwandler“ werden also Unruhe stiften, und das ist gut so. Etwas Besseres kann der deutschen Öffentlichkeit gar nicht passieren, vier Monate vor dem Jubiläumsjahr des „Großen Krieges“, fünfzehn Jahre nach dem Nato-Krieg im Kosovo, wenige Tage vor dem Beginn der nächsten amerikanischen Militärintervention im Nahen Osten.