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Thomas Brasch : Ich stehe nur für mich

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Sein Vater war hoher Funktionär im Kulturministerium der DDR, Thomas Brasch wurde Schriftsteller, legte sich mit seinem Staat an und ergriff die Flucht. Der Interviewband, der jetzt mit dem hochbegabten Autor erschienen ist, gehört zum Besten, was derzeit zu zwanzig Jahren Mauerfall zu lesen ist.

          5 Min.

          Thomas Brasch hatte eine tiefe, männliche und entschiedene Stimme. Und man muss sich den Klang dieser Stimme dazu denken, wenn in der kommenden Woche bei Suhrkamp die Interviews erscheinen, die Brasch, Schriftsteller, Dichter, Dramatiker und Filmemacher, zwischen 1976, als er von der DDR in den Westen kam, bis zu seinem Tod 2001 in Berlin gegeben hat; eine Stimme, die nicht nach Übereinstimmung, sondern nach Widersprüchen suchte, weil griffige Formulierungen Thomas Brasch langweilten, weil er nicht vereinnahmt werden und, selbstbestimmt, für niemand anders sprechen wollte als für sich.

          Julia Encke
          Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          „Ich merke mich nur im Chaos“ heißt der Interviewband, und er ist, angesichts der Sprachgenauigkeit, der Intelligenz und Wortmacht des Befragten, nicht nur das Beste, was man seit langem an Schriftstellerinterviews gelesen hat. Er gehört auch zum Gewinnbringendsten, was, historisch gesehen, derzeit zu zwanzig Jahren Mauerfall zu lesen ist, eben weil Thomas Brasch in den Gesprächen so beharrlich an der Subjektivität seiner Erfahrungen festhielt; weil er nicht den Anspruch hatte, Geschichte zu erzählen, sondern seine Geschichten.

          Fluchten eines Funktionärssohns

          Die Stimme einer Generation wollte er so wenig sein wie sonst irgendeine Art des „Dissidenten“oder Klassensprechers. Seine Abneigung galt dem „wir“, dem verallgemeinernden „man“: „Sie sind doch aus der DDR weggegangen, weil man es dort nicht aushalten kann“, wurde er immer wieder gefragt. Die beiden Satzhälften fielen auseinander, er sah sich außerstande zu antworten: „Die logische Fortsetzung des Satzes wäre gewesen: weil Sie es dort nicht aushalten können“, sagte er. „Hierauf hätte ich eine Antwort geben können. Die hätte dann gelautet, dass man als Schriftsteller irgendwann aus dem Babyalter herauskommen und, nach Jean Paul, unter ,G' wie ,Gedruckt' erscheinen will.“

          Brasch war 31 Jahre alt, als er, zusammen mit seiner Freundin Katharina Thalbach und ihrer gemeinsamen Tochter Anna, nach West-Berlin kam. Und er war, davon erzählt ein langes Gespräch mit der amerikanischen Zeitschrift „New German Critique“ von 1977, hinter Mauern gewissermaßen schon aufgewachsen, als die große Mauer noch gar nicht stand: Als Sohn emigrierter kommunistischer Juden wurde Brasch 1945 im englischen Westow, Yorkshire, geboren und zog mit der Familie in die damalige Sowjetische Besatzungszone, als er zwei war. Der Vater machte Karriere als Funktionär, wurde später stellvertretender Kulturminister der DDR;

          Der Schriftsteller in der Volksarmee

          Das Funktionärskind Thomas Brasch kam mit elf Jahren auf die Kadettenschule der Nationalen Volksarmee in Naumburg, wo es Uniformen statt Zivilkleidung gab, militärisches Training statt Ferien, neben dem Unterricht obligatorische Arbeitszeiten in Panzerinstandsetzungswerken und keine Mädchen: „Unsere Schule war von einer Mauer umgeben, und draußen standen die Wachen. Wir konnten nicht hinaus, weil sie von der Außenwelt abgeriegelt war. Fast wie ein Gefängnis“, erzählt Brasch. Also habe er mit dem Schreiben angefangen, weil er dachte, sie würden ihn dann sofort von der Schule werfen. Aber es funktionierte nicht: Schriftsteller zu sein, sagte man ihm, sei eine ehrenwerte Beschäftigung, die auch in der Nationalen Volksarmee Platz hätte. 1960 wurde die Schule geschlossen, endlich war er draußen.

          Die Gespräche des Bands lesen sich, auf einer ersten Ebene, als biographische Selbstzeugnisse - mit einer beredten Lücke. Denn vom Vater ist in den Interviews kaum die Rede; jedenfalls nicht von der Geschichte, auf die sich im Westen alle stürzten, als Thomas Brasch 1977 im Rotbuch-Verlag seinen Erzählungsband „Vor den Vätern sterben die Söhne“ veröffentlichte. Der Plural und das „radikal Poetische“ des Titels wurden, wie Katja Lange-Müller einmal bedauert hat, da gerne übersehen, lieber wollte man im Buchtitel den Konflikt des realen Sohns Thomas Brasch mit dessen realem Vater Horst Brasch sehen. Es war der typische biographische Literaturkritikreflex: Thomas Brasch hatte an der Hochschule für Film und Fernsehen studiert, als er 1968 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ exmatrikuliert, verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt wurde.

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