Schriftstellerbiographie : Topograph der horizontalen Höllenstürze
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Arno Schmidt im VW-Bus des Ehepaars Michels bei einem gemeinsamen Ausflug Anfang der sechziger Jahre Bild: Wilhelm Michels/Arno Schmidt Stiftung Bargfeld
Arno Schmidt war ein unbeugsamer Schriftsteller und ein Atheist – der aber, als wäre er Gott, nicht revidierbare Urteile über andere und sich selber sprach. Sein Biograph Sven Hanuschek braucht tausend Seiten für den Versuch, das Leben dieses Mannes zu fassen.
Die Überschrift dieser Rezension zitiert eine Selbstcharakterisierung desjenigen, dem das besprochene Buch gilt: Arno Schmidt. Sie entstammt dem Jahr 1953 und dem ersten Brief des Schriftstellers an Wilhelm Michels, einen Mann, der mit Schmidt immerhin schon sieben Jahre später per Du und für insgesamt dreihundert Werkausgabendruckseiten Korrespondenz gut war, aber 1968 in Ungnade fiel – kurz nachdem Michels von Schmidt ein Darlehen gewährt bekommen hatte. Normalerweise würde man die Aufkündigung einer Freundschaft eher vom Darlehensnehmer erwarten, denn der Geber hat ja etwas zu verlieren. Aber für Schmidt bedeutete Geld nicht mehr als tägliche Ruhegewährung, damit er Zeit zum Schreiben fand, und der in die Nachbarschaft gezogene Michels stellte mit seiner Gegenwart just diese Ruhe infrage. Also ließ ihn Schmidt privat zur Hölle fahren, allerdings unausgesprochen. Der Briefwechsel von seiner Seite verläpperte einfach.
Schmidt bezeichnete sich genauer gesagt als „Topographen der horizontalen Höllenstürze“. Was er darunter verstand, hat er Michels so erläutert: „Der, der nebenher stürzt, und aus seinen Adern mitstenographiert: wenns alle ist, ists alle!“ Will sagen: Ein Schriftsteller wie er – nein, bei einem Mann wie Schmidt schon falsch: nur er – ist als Zeitzeuge der historischen Umbrüche, die NS-Zeit, deutsche Niederlage, Besatzungszeit und Adenauer-Regierung bedeuteten, buchstäblich bis aufs Blut gefordert insofern, als er alles, über das er verfügt, aufs (Be-)Schreiben verwenden wird. Und am Ende ebenso zerschmettert daliegen wie die von ihm dokumentierten Höllengestürzten. Die Horizontalität dabei verdankt sich der Tatsache, dass der Atheist Schmidt „Höllensturz“ als weltliche Metapher deutlich machen wollte. Das verhinderte allerdings nicht, dass er persönlich selbstherrlich wie ein Gott über sich und andere urteilte.
Diese Ambivalenz spielt kaum eine Rolle in Sven Hanuscheks fast tausendseitiger Biographie von Arno Schmidt, die jetzt mit gebührlicher Verzögerung bei Hanser erschienen ist. Schmidt starb 1979, und das ideale Publikationsdatum wäre vor acht Jahren zum hundertsten Geburtstag gewesen, aber lange Zeit hatte noch Schmidts Stellvertreter auf Erden, Bernd Rauschenbach, seines Zeichens Sekretär der Arno-Schmidt-Stiftung, die alle Rechte am Werk hält, über eigenen Biographieplänen gesessen. Aus seinen Vorarbeiten entstand 2016 immerhin eine „Bildbiographie“ über Arno Schmidt, auch schon 450 Seiten dick und sowohl text- als auch faktenreich. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn man es dabei belassen hätte, zumal Schmidt ein bildbezogener Schriftsteller war, der seine frühe Prosa typographisch als Äquivalent zu Fotoalben gestaltete und für seine späten Romane immer wieder auf Anregungen durch Abbildungen zurückgriff. Die Bildbiographie durfte man deshalb als adäquate Form ansehen, zumal die Aufnahmen der Person Arno Schmidt darin meist das zeigten, was seine langjährige Putzfrau Erika Knopp das „Fotogesicht“ des Schriftstellers nannte: skeptisch, bärbeißig, abweisend. Er wollte eben auch bei der Inszenierung seiner selbst Herr der Sache bleiben.