Buch über politische Ökonomie : Seht nur, wie die Institutionen zerfallen
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Ist die Währungsunion ein missglücktes Experiment und der Brexit ein Vorbote der fortschreitenden Auflösung der EU? Bild: Picture-Alliance
Da sind doch Fehler im System: Wolfgang Streeck macht sich an die ganz große Transformation der globalisierten Welt. Zu einem solchen Wurf gehört Mut – und eine Portion Größenwahn.
Wenn man den Titel dieses Buches an einem historischen Vorbild ausrichten wollte, könnte er, frei nach Lenin, „Die neoliberale Hyperglobalisierung als höchstes Stadium des Kapitalismus“ heißen. Folgt man Wolfgang Streeck, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und zeitweiliger Weggefährte von Sahra Wagenknecht und Bernd Stegemann in der Linksbewegung „Aufstehen!“, so hat diese Phase in den frühen Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts begonnen: mit dem Zusammenbruch des Systemrivalen Sowjetunion, der den endgültigen Sieg des westlichen Modells von Demokratie plus Marktwirtschaft bekräftigte. Den amerikanischen Politologen Francis Fukuyama verführte das zur steilen These, nun sei ein „Ende der Geschichte“ erreicht – natürlich nicht der Ereignisgeschichte, sondern verstanden als struktureller Zustand des globalen Systems.
Heute wissen wir, dass Fukuyama falschlag, wie schon Lenin im Jahr 1917. Streeck illustriert das an großen Krisen, die seither durchlaufen wurden: Weltfinanzkrise, Euro-Schuldenkrise, schließlich die Corona-Pandemie, die zu einem Einbruch der Weltwirtschaft geführt hat. Dazu kommen politische Niederlagen des Westens, vor allem mit den letztlich gescheiterten militärischen Interventionen im Irak und in Afghanistan; schließlich der Aufstieg Chinas zum neuen wirtschaftlichen wie politischen Systemrivalen der westlichen Welt.
Eine Neuformatierung der Demokratie
Das alles sind, folgt man Streeck, keine kontingenten Entwicklungen, sondern Vorzeichen dafür, dass die Phase der Hyperglobalisierung unvermeidlich an ihr Ende gekommen ist. Er führt ein imposantes theoretisches Gebilde auf, um diese Entwicklung als zwingend zu erweisen. Dafür streift er quer durch Ökonomie, Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaft, selbst die philosophische Anthropologie wird genutzt; und entwickelt wird daraus eine holistische Theorie, die nicht weniger anstrebt, als die Natur von Gesellschaften und Staaten sowie des gesamten Staatensystems zu erklären.
Es ist die ganz große Transformation, die Streeck für die Zukunft im Auge hat – und in der Tat ist „The Great Transformation“ des österreichischen Wirtschaftshistorikers und Sozialforschers Karl Polanyi eine seiner wichtigsten Quellen. Inspiration bieten auch Edward Gibbons „Untergang und Fall des Römischen Imperiums“ und John Maynard Keynes – eine recht heterogene, aparte Mischung.
Endet die schöne neue Welt im Chaos?
Diese große Transformation beginnt bei Streeck mit einer Neuformatierung der Demokratie, und hier beginnen auch die Probleme. Die politische Legitimationskrise, die sich im Aufkommen links- und rechtspopulistischer Bewegungen manifestiert, sieht Streeck mit einer gewissen Genugtuung. Denn er bescheinigt ihnen, dass sie mit ihrer Kritik in vielem recht haben und Ziele formulieren, die durchaus in seinem Sinn sind: Ablehnung der „kosmopolitischen Eliten“ , überhaupt des politischen „Mainstreams“; Rückgewinnung nationalstaatlicher Souveränität durch Auflösung supranationaler Institutionen wie der EU und Abschaffung von „global governance“; Protektion der heimischen Wirtschaft und Abschottung der Grenzen als Schutz vor einer Überforderung des Sozialstaates durch Migration; breite Partizipation, wobei der bei Gelegenheit gewählte Begriff „plebejisch“ anzeigt, in welche Richtung das gehen soll. Die Befürchtung, dass der populistische Zug letztlich bei einer ganz anderen Station ankommen könnte, nämlich in einem autoritären, sogar gewaltbereiten Regime à la Trump, beschäftigt Streeck nicht wirklich.