Wolfgang Schivelbusch wird 80 : Verlusterfahrungen des Fortschritts
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Einer der anregendsten Autoren der neueren Kulturgeschichte: Wolfgang Schivelbusch. Bild: Maurice Weiss/Ostkreuz
Reaktionär ehrenhalber: Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch lässt sich in einem neuen Buch zu seiner intellektuellen Biographie befragen.
Lange Jahre führte Wolfgang Schivelbusch so etwas wie die bekannteste Pendlerexistenz im deutschsprachigen Wissenschafts- und Sachbuchbetrieb. Wenige Rezensionen seiner Bücher verzichteten auf den Hinweis, dass der Autor sein Leben zwischen Berlin und New York aufteile. Gute vierzig Jahre lang ging das so, seit er 1973 den Mietvertrag für seine erste eigene Wohnung in New York unterschrieb. Die Stadt, so sagt er selbst, war als „der Punkt, an dem Europa endete und Amerika begann“ die für ihn richtige „strategische Position“. Fortan verbrachte er dort das Winterhalbjahr und tauchte ab in Bibliotheken mit einer Materialfülle, wie er sie in Deutschland nicht kannte.
Aus ihren unerschöpflich scheinenden Beständen hob er, was ihn zu einem der produktivsten und anregendsten Vertreter der neueren Kulturgeschichte werden ließ. Die „Geschichte der Eisenbahnreise“ oder die „Geschichte der künstlichen Helligkeit“ zeichneten nach, wie die „Industrialisierung des Menschen“ bis in seine alltäglichen Erfahrungen und Wahrnehmungen eindrang. Bevor allerdings, wie er selbst sagt, diese Art der Materialgeschichte zu einer „Masche“ werden konnte, wandte er sich von den Dingen ab und dem Geist zu. Fast sprichwörtlich geworden ist aus dieser Zeit die „Intellektuellendämmerung“, so der Titel seiner Geschichte der Frankfurter Intelligenz der Zwanzigerjahre. Anfang der Zweitausenderjahre folgten schließlich die großen vergleichenden Studien: „Kultur der Niederlage“, die in den Blick nimmt, wie in Frankreich, Deutschland und dem amerikanischen Süden Mythen zur Bewältigung von Kriegsniederlagen reaktiviert werden, und „Entfernte Verwandtschaft“, die Ähnlichkeiten zwischen New Deal, Faschismus und Nationalsozialismus nachspürt.
Akademischer Grenzgänger
Über seine intellektuelle Existenz zwischen zwei Städten und Kontinenten erzählt Schivelbusch nun in „Die andere Seite“. Nach einem schmalen Essayband über den „Rückzug“ ist dies seit mehreren Jahren sein erstes Buch, ein vom Verlag eigentümlicherweise nicht als solcher angekündigter Gesprächsband. Wie Schivelbusch im Vorwort unumwunden preisgibt, plagt ihn seit geraumer Zeit eine Schreibblockade. So fungieren also drei verschiedene Gesprächspartner als Geburtshelfer und lenken die Darstellung, wobei die einzelnen Bücher als Wegmarken fungieren. Überlegungen zu deren intellektuellen Voraussetzungen wechseln dabei in lockerer und manchmal assoziativer Folge ab mit Ausblicken auf die historischen und kulturellen Zeitumstände.
Dabei beschreibt der Kulturwissenschaftler nichts, ohne es zugleich mit dem Assoziationsreichtum eines ganzen Leserlebens zu reflektieren, seien es seine eigenen Lebensentscheidungen, seien es Beobachtungen der kleinen Dinge oder der großen Zusammenhänge. Und er gibt Einblicke in ein akademisches Grenzgängertum, das bei der Literaturwissenschaft, bei Peter Szondi, seinen Ausgang nahm, bei dem er die komparatistische Methode des Vergleichens aufgriff, und über Norbert Elias, der ihm den Weg in die Welt der Dinge eröffnete, weiterführte. Dass das Abweichen von den akademischen Fächerzuordnungen auch bedeutete, sich außerhalb der akademischen Karrierewege und damit gesicherter Finanzierung zu bewegen, formuliert Schivelbusch in aller Offenheit.