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Was die Gesellschaft verlangt : Theater der Authentizität

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Wie sähe die Welt aus, wenn wir mehr spielten? – „I love you, but I’ve chosen Entdramatisierung“ von René Pollesch an der Volksbühne in Berlin im Mai 2016 Bild: LSD Lenore Blievernicht LSD Leno

Was bleibt übrig von dem Wunsch, nichts als man selbst zu sein, wenn dieser Wunsch zugleich einer gesellschaftlichen Anforderung entspricht? Wolfgang Engler entwirrt die Fallstricke der Unverstelltheit.

          5 Min.

          Als Salvador Sobral beim diesjährigen Eurovision Song Contest vor die Kamera trat, passierte etwas, das vielerorts Erstaunen auslöste: Der portugiesische Sänger mit dem mädchenhaften Halbzopf, dem viel zu großen Sakko und der ungelenken Körperhaltung schien im Unterschied zu seinen Konkurrenten auf alle Stilisierungen zu verzichten und sang mit filigran-skurrilen Handbewegungen sein zartes Lied, als würde er gerade in einer kleinen Jazzkneipe auftreten und nicht vor einem Millionenpublikum. Sobral scherte sich, so hatte man den Eindruck, nicht um die Erwartungen des Showbusiness, nicht um Einschaltquoten und Verkaufszahlen, nicht um massentaugliche Präsentation und standardisierte Ästhetik. Er sang einfach sein Lied – und gewann den Wettbewerb. Als „authentischer“ Künstler wurde er anschließend gefeiert, als einer, der sich nicht verstellt und der Musik Wahrhaftigkeit verleiht.

          Sobral spiegelt die offenbar immer noch nicht erloschene Sehnsucht nach Unterbrechung inmitten einer Welt, die nach ästhetischer Perfektion strebt und keine Kanten und Brüche, bloß Oberflächen zeigt. Zugleich liegt er damit im Trend der Zeit, denn authentisch zu sein ist ein allgegenwärtiger Anspruch im Alltag, in der Politik, im Arbeitsleben und in der Kulturindustrie. Doch jeder, der sich ihm aussetzt, gerät in seine Fallstricke. Was bleibt übrig von dem Wunsch, nichts als man selbst zu sein, wenn dieser Wunsch zugleich einer gesellschaftlichen Anforderung entspricht?

          Entfremdung verboten!

          Das Thema scheint nirgendwo besser aufgehoben zu sein als bei jemandem, der etwas von Theater und Schauspiel versteht: Wolfgang Engler, der langjährige, noch bis September amtierende Rektor der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, hat sich auf Spurensuche nach dem Authentischen begeben und dabei bemerkenswerte Funde gemacht. „Entfremdung verboten!“ – das sei „der Wahlspruch unserer Zeit“. Diese Diagnose erstaunt, leben wir doch in der kapitalistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, in der es, vielen Kritikern zufolge, an Entfremdung nicht fehlt. Doch Engler lässt mit der antikapitalistischen Klarstellung nicht lange auf sich warten: Demnach bleibt die Überwindung der Selbstentfremdung ein unerfülltes Bedürfnis unserer Zeit – aber ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Der Neoliberalismus verhindert in dieser Sichtweise Authentizität, gibt aber vor, das genaue Gegenteil zu tun.

          In der modernen Arbeitswelt findet sich diese Paradoxie des authentischen Rollenspiels wieder. Wer sind wir, wenn wir arbeiten, und wer würden wir gerne sein? Lange Zeit gab es eine klare Trennung zwischen der Rolle, die wir im Arbeitsleben spielen, und jener, die unser Privatleben ausfüllt. Arbeit galt als fremdbestimmt, Freizeit als selbstbestimmt. Der „klassische Angestellte“ vergangener Zeiten, so beschreibt es Engler, „erholte sich für das Unternehmen, indem er sich unbekümmert von ihm erholte“. Der Kern dieser Unterscheidung sei dagegen nirgendwo aufgeweichter als „in der Welt der neuen Angestellten“.

          Die Verwandlung der Arbeit in ein Lebensbedürfnis

          In dieser neuen Welt geht es plötzlich nicht mehr darum, das autonome Selbst vor einer arbeitsbedingten Funktionalisierung zu schützen, sondern es soll im Arbeitsleben zur vollen Entfaltung kommen. „Die Funktion bin ICH“: Die Arbeit ist nicht mehr bloß Pflicht, sondern das Tor zur Selbstverwirklichung, ein ganzheitliches Erleben, in dem jeder so sein kann, wie er wirklich ist. Der Arbeit haftet nicht länger etwas Negatives an, von dem man sich abgrenzen muss – zumindest nicht in der Kommunikation nach außen. Das Handy ist immer an, jeder ist stets auf Abruf, der Feierabend ist von der Arbeitszeit nicht mehr klar abgetrennt.

          Die „Verführungskraft neuer Medien und Technologien“ unterstützt laut Engler diese „ungeschützte Selbstbeziehung“ und verstärkt das Bedürfnis, sich bei der Arbeit nicht zu verstellen, keine Rolle mehr zu spielen, sondern unverfälscht man selbst zu sein. Eigentlich ist mit einer solchen Verwandlung der Arbeit in ein Lebensbedürfnis die Erfüllung der sozialistischen Utopie schlechthin beschrieben – hätte sie nicht den doppelten Boden, dass, wer ein solches Arbeitsverständnis hat, aus freien Stücken nahezu bedingungslos dem Kapital dient, um es in Englers Worten auszudrücken. Das Fremde wird zum Eigenen gemacht, und das führt gerade nicht zur Authentizität, sondern zur Entfremdung.

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