Victor I. Stoichita: Der Pygmalion-Effekt : Kalt ist der Marmor, doch bald pulst das Blut
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Der Wunsch nach einem Trugbild ist immer auch eine Flucht vor den allzu aufdringlichen Originalen. So schnitzte Ovids Pygmalion seine berühmte Skulptur aus „Abscheu vor den Gebrechen, mit denen die Natur das weibliche Gemüt so überreich bedacht hat“. Venus erhörte denn auch nicht seine Bitte nach einer Gefährtin, die dieser Elfenbeinstatuette ähnlich sehe, sondern verwandelte das Abwehrbild in eine Frau, die der Bildhauer ehelichen und die ihm einen Sohn gebären sollte.
Mit diesem Happy End kam Pygmalion allerdings nicht zur Ruhe, sondern entfaltete eine Wirkungsgeschichte, die über den Rosenroman, die Künstlerbiographik der Renaissance und die Kunsttheorie der Aufklärung bis in die Gegenwart anhält und auch die aktuelle Faszination für Simulakren nährt. In seinem neuesten Buch über den „Pygmalion-Effekt“ unternimmt der in Fribourg lehrende Kunsthistoriker Victor I. Stoichita eine erneute Sichtung dieses vielkommentierten Mythos der Kunst. Sein Ausgangspunkt ist eine einfache, sogar naiv anmutende Frage, die sich jedoch als überaus ergiebig erweist: Wodurch wurde die Statue denn eigentlich lebendig?
Das Betatschen als effektives Mittel
Genau diese Frage mussten Dichter, Schauspieler, Tänzer, Maler und erst recht Bildhauer, die den antiken Bildhauer und seine Skulptur darstellen wollten, auf ganz konkrete Weise beantworten. Von ihnen war mehr verlangt als eine Feier des lebendigen Bildwerks. Keine geringere Herausforderung lag darin, auch den Vorgang der Verlebendigung zu beschreiben und die Gründe für sein Gelingen zu bestimmen. Die Künstler interessierten sich daher für die Verfahren und Prozesse, die ein wirksames Trugbild hervorbringen: zunächst natürlich für die Arbeit des Bildhauers, seine Werkzeuge, sein Atelier und sein Material, darüber hinaus aber auch für die Rituale des Venuskults und der Liebe, für die Prozeduren des Schmückens, Bekleidens und Posierens, für die Gesten des Berührens und Umarmens, für Küsse und Gegenküsse, für das Pulsieren des Blutes, die Phantasien des sein Werk betrachtenden Bildhauers und nicht zuletzt für den entscheidenden Schritt hinab vom Sockel, den die Statue tut, um auf dem Boden der Realität anzukommen.
Stoichita unterzieht diese verschiedenen Formen der Interaktion von Göttern, Menschen und Artefakten einer sorgfältigen Analyse und zeigt anhand von historisch weit auseinanderliegenden Beispielen, dass ein überraschend schmales Repertoire von Kunstgriffen immer wieder zum Einsatz kommt, wenn sich eine weibliche Figur unter den Augen eines männlichen Betrachters in das lebendige Bild von dessen Begehren verwandelt. Besonders Ankleiden und Schmücken, aber auch eine gemütliche Zimmertemperatur und nicht zuletzt das Betatschen galten den Pygmalionikern aller Epochen als effektive Mittel, dem kalten Material Lebenswärme zuzuführen. In den verschiedenen Neubearbeitungen, die der Pygmalionmythos zwischen Ovid und Hitchcock erfuhr, kamen allerdings auch neue Verfahren der Verlebendigung ins Spiel.