Geschichte einer Epoche : Als die Briten Europa überholten
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König Ludwig XIV. und sein Finanzminister Jean-Baptiste Colbert besichtigen 1667 die königliche Teppich-Manufaktur: Gobelin nach einem Entwurf von Charles Le Brun, um 1730. Bild: Bridgeman
Das Zeitalter der Aufklärung in Europa war auch die Epoche der beginnenden britischen Dominanz. Tim Blanning hat darüber ein lesenswertes Buch geschrieben.
Die Epochendarstellung ist die Königsdisziplin der Geschichtswissenschaft. Sie verlangt nicht nur die umfassendste Recherche, sondern auch die größte Strenge bei der Auswahl des Materials; nirgendwo sonst muss von so viel Erlesenem so vieles wieder aussortiert werden. Auch die Frage der Form ist dabei keine äußerliche, sondern eine Vorentscheidung über den Inhalt. Man kann, wie Fernand Braudel in seiner Geschichte der Mittelmeerwelt unter Philipp II., ein ganzes Zeitalter von einem Ereignis – der Seeschlacht von Lepanto – aus beleuchten oder sich ihm, wie Jürgen Osterhammel in seiner „Verwandlung der Welt“, mit einem dichten Netz von Begriffen nähern; je nachdem wird die Darstellung eher einem Wandgemälde mit Tiefensicht oder einem tausendteiligen Puzzle gleichen.
Man kann aber auch versuchen, das Anekdotische und das Analytische in eine wie auch immer heikle Balance zu bringen, sodass keins von beiden ein Übergewicht gewinnt. So hält es der britische Historiker Tim Blanning in seinem Buch über den „Aufbruch Europas“ zwischen 1648 und 1815, mit allen Vorzügen und Nachteilen, die dieser Mittelweg mit sich bringt. Ein entscheidender Vorzug sei hier gleich genannt: Es ist die unbedingte Lesbarkeit von Blannings Prosa.
Alle unterschätzten den Expansionsdrang Frankreichs
Blanning hat seine Darstellung, die im Original bereits 2006 als Teil einer Buchreihe zur europäischen Geschichte erschienen ist, in vier Hauptteile gegliedert: „Leben und Sterben“, „Macht“, „Religion und Kultur“ und „Krieg und Frieden“. Es geht also um die Bedingungen des Alltagslebens, die Struktur der Herrschaft, die Vorstellungs- und Ausdruckswelt und die Realgeschichte vom späten siebzehnten bis zum frühen neunzehnten Jahrhundert – und um die vielfältigen Verbindungen zwischen diesen Sphären. Nicht zufällig steht das Kapitel über „Schlösser und Gärten“ im Abschnitt über die Kunst. Bei Blanning blättert man öfter einmal vor und zurück. Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch.
Die Friedenskongresse von Osnabrück und Münster und von Wien, zwischen denen Blannings Panorama aufgespannt ist, hatten das Ziel gemeinsam, die europäische Mächtekonstellation nach längerer Zerrüttung wieder in einen stabilen Zustand zu versetzen. Den Vertragsparteien von 1815 ist das für mindestens vier Jahrzehnte gelungen, ihren Vorgängern von 1648 dagegen nicht. Sie hatten, wie Blanning in den Schlusskapiteln zeigt, den Expansionsdrang der französischen Monarchie unterschätzt, die nach der Niederwerfung des Fronde-Aufstands in die Offensive ging. Gut fünfzig Jahre dauerten die Eroberungskriege Ludwigs XIV., ehe mit den Verträgen von Utrecht und Rastatt die Territorien West- und Südeuropas abermals neu verteilt wurden.
Napoleon folgte den Spuren des Sonnenkönigs
Doch dieser Frieden war nicht mehr als ein Zwischenstand in jenem „zweiten Hundertjährigen Krieg“ zwischen Frankreich und England, der das Rückgrat von Blannings Erzählung bildet. Als mit dem aufstrebenden Preußen unter Friedrich dem Großen ein neuer Akteur die Bühne betrat, weitete sich der Konflikt auf ganz Europa und durch die überseeischen Besitzungen der Westmächte auf die halbe Welt aus. Napoleon, der zuerst auf Wien, dann nach Berlin und schließlich nach Moskau marschierte, während seine Flotte sich mit den Briten schlug, folgte im Grunde den Spuren des „Sonnenkönigs“. Die Französische Revolution hatte ihm den Weg gebahnt, indem sie nach anfänglichen Befreiungsparolen rasch zu einer Politik der militärischen Unterwerfung ihrer Nachbarn überging.