Steven Naifeh und Gregory White Smith: Van Gogh : Gruppenbild mit Künstler als trauriger Schreckensmann
- -Aktualisiert am
Bild: S. Fischer Verlag
Steven Naifeh und Gregory White Smith zeigen, wie sich mit einer gut geschriebenen und genau gearbeiteten Biographie ein großer Mythos der modernen Kunst erhellen lässt: Vincent van Gogh.
Es braucht Vertrauen, um die umfangreiche Biographie zu Vincent van Gogh zu lesen, die Steven Naifeh und Gregory White Smith gemeinsam verfasst haben. Denn das tausendzweihundert Seiten starke Werk kommt nahezu ohne Fußnoten aus. Und doch wird sehr rasch deutlich, dass wir es hier nicht mit einer Mischung aus Fakten und Fiktion zu tun haben, so plastisch die Lebensgeschichte des Malers in gut angloamerikanischer Tradition auch vor Augen gestellt wird. Die Darstellung nährt sich aus umfassenden Lektüren und Recherchen der interdisziplinär geschulten Autoren. Wie viele neue Details aus dem nicht gerade unerforschten Leben des legendären Künstlers van Gogh durch die Erschließung bislang unveröffentlichter Briefe zutage befördert werden, können nur diejenigen entscheiden, die sich intensiv mit der Legion an Studien zu van Gogh befasst haben. Doch darum geht es auch gar nicht. Die großartige Leistung dieser Biographie liegt in der Art und Weise, wie künstlerische Individualität und kulturelles Umfeld ineinander verwoben werden.
Unter den Mythen der Moderne gehört die Legende vom verkannten, geschmähten und letzten Endes sich selbst zerstörenden Künstler-Märtyrer zu denjenigen, die sich gegen alle aufgebotene Forschungsintelligenz hartnäckig halten. Naifeh und Smith treten nun nicht an, diesen Mythos im hellen Licht eines aufklärerischen Gestus zu entlarven. Vielmehr arbeiten sie unprätentiös heraus, wie sich die Essenz dessen, was den van-Gogh-Mythos ausmacht - Unbedingtheit des Wollens und exzessive Ausdruckskraft -, aus der kulturellen Verfasstheit des späteren neunzehnten Jahrhunderts im Allgemeinen und den individuellen Lebensbedingungen des Malers im Besonderen entfaltet. Die Autoren sind klug genug, diese nicht umstandslos in den Werken aufzusuchen. Die Bilder treten erstaunlich weit in den Hintergrund und werden auch nicht eingehend analysiert. Dargestellt werden die Gründe für die Wahl eines Motivs: Mal ist es der notorische Geldmangel, der van Gogh zwingt, seine Modelle auf der Straße und in Kohleminen, in Armenhäusern oder bei den Torfbauern zu suchen - eine Entscheidung, die sich mit religiösen Bildern verbindet, wie sie die Leben-Jesu-Forschung hervorgebracht hat. Mal ist es die Rivalität mit anderen Künstlern, denen van Gogh sich durch Aneignung der Sujets zu nähern sucht, oder auch die - allerdings nur selten erhörte - Mahnung des Bruders Theo, verkaufstauglichere Bilder herzustellen.
Das Atelier als Suppenküche
Interessiert sind die Verfasser an anderen Bildern, an denen, die van Gogh in seinen Briefen phantasmatisch ausmalt, und zwar ohne irgendeine Realitätsprüfung. Van Gogh verfügte über eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Illusionierung, die der Ausdruckskraft der technisch oft unbeholfenen Bilder zugute kam, aber im Leben jenseits der Malerei nicht wirklich hilfreich war. Auch hier werden keine voreiligen Schlüsse gezogen, ob die Malerei psychohygienische Funktion hat oder ob sie im Gegenteil den Hang zur Verleugnung der Gegebenheiten verstärkt. So erschien dem ständig den Wohnort wechselnden Künstler, der von Empathie für die bettelarme Landbevölkerung beseelt war, die ödeste Torflandschaft als Paradies. Südfrankreich hingegen wird ihm rasch zur unerträglichen Hölle.
Der heiße Wunsch nach Reinheit der Ausdruckskraft und Wahrheit wird nicht als Quell genialischer Schöpferkraft verklärt, sondern als Produkt zeitgenössischer künstlerischer und religiöser Vorstellungen herausgestellt, die van Gogh mit pathologischer Energie seiner Welt einverleibt. Je nach Lebensphase sind es die Erbauungsschriften Thomas van Kempens oder Jules Michelets Ausführungen zur Liebe, die der Künstler nicht nur zum Maßstab des eigenen Lebens macht, sondern auch denjenigen als Prinzipien aufnötigen will, die er als exklusive, doch wechselnde Verbündete seiner Existenz betrachtet. Vor allem sein Bruder Theo, aber auch die wenigen Künstlerfreunde, die van Gogh je hatte, werden immer wieder in den Sog aus gewaltsamer Anziehung und harter Abstoßung gezerrt. Bilder, tatsächliche oder metaphorische, leiten das Leben, so der Sämann, den van Gogh gleichermaßen bei dem verehrten Maler Millet findet wie auch in den Predigten seines Vaters.