Stéphane Hessel: Empört Euch! : Warum ist Empörung wertvoll? Weil sie dazu zwingt, ein Leben aus Ideen zu führen
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Geht in Frankreich weg wie warme Semmel: Stéphane Hessels Streitschrift „Empört euch!“ Ob das 32-seitige Pamphlet des ehemaligen Widerstandskämpfers auch in Deutschland zum Kassenschlager wird, bleibt abzuwarten. Gründe dafür gibt es genug.
Der Ullstein-Verlag hat schnell zugegriffen und Stéphane Hessels Empörungsschrift, die in Frankreich ein Mega-Bestseller ist, mit einer deutschen Startauflage von 50 000 Stück auf den Weg geschickt. Der französische Verkaufserfolg, der schwerlich auf klare Kausalitäten zurückzuführen ist, geht jedenfalls mit zwei äußeren Erstaunlichkeiten einher: Die Schrift ist weniger ein Buch als ein Heftchen, sie hat dreißig Seiten, kostet 3,99 Euro. Und ihr Autor ist ein greiser Mann von 93 Jahren, der als Résistance-Mitglied, Überlebender des KZ Buchenwald und Mitautor der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen über gehörige Lebenserfahrung und moralische Autorität verfügt.

Redakteur im Feuilleton.
Sind das schon alle Ingredienzien, die ein phänomenaler Verkaufserfolg wie dieser benötigt? Die Koppelung von Helmut- Schmidt-Effekt (altersweise moralische Instanz) und schnell und preiswert konsumierbarer Lektüre? Brauchen wir mehr alte Männer als Autoren und einen anderen, einen auf Heftumfang reduzierten Bücherbegriff, damit der Buchmarkt boomt?
Ein engagiertes Leben führen
Im vorliegenden Fall ist der knappe, aufstachelnde Titel „Empört euch!“ nicht nur eine zündende Geschäftsidee. Sondern er bezeichnet tatsächlich die Substanz des Buches. Es geht darin weniger um die konkreten politischen Anliegen, die der Autor als Beispiele für eine allfällige Protestkultur nennt: die Exzesse des Finanzkapitalismus, die Umweltzerstörung, die Politik Israels im Gaza-Streifen (gegen Letztere hat er sogar zu einem heftig diskutierten Boykott israelischer Produkte aus den besetzten Gebieten aufgerufen). Hessel nennt solche Zornanlässe und macht doch klar, dass es nur Anlässe sind. „Seht euch um, dann werdet ihr die Themen finden, für die Empörung sich lohnt - die Behandlung der Zuwanderer, der in die Illegalität Gestoßenen, der Sinti und Roma.“
All diese Themen sind Anlässe für das, worum es dem Autor geht: ein engagiertes Leben zu führen, durchaus im Sinne der Existenzphilosophie Sartres, wiewohl Hessel sich in der Gewaltfrage distanziert: „Es geht nicht an, nach Sartres Beispiel im Namen des von ihm postulierten Prinzips Terroristen zu unterstützen, sei es während des Algerienkriegs oder 1972 beim Attentat gegen israelische Athleten während der Münchner Olympischen Spiele. Damit kommt man nicht weiter, und Sartre selbst hat sich am Ende seines Lebens gefragt, welchen Sinn Terrorismus habe, und seine Berechtigung bezweifelt.“
Staunen als Bürgerpflicht
Eine von ihren Anlässen losgelöste Empörungsbereitschaft erscheint hier als die Essenz des Daseins, als ein lebensspendendes Prinzip. Weil sie, die Empörung, ex negativo dazu zwingt, sich an Wertvollem aufzurichten, ein Leben aus Ideen zu führen und damit aus Freiheit statt aus Notwendigkeit. Hessels Pamphlet atmet eine Überzeugungsnaivität, die es sich in einer Kultur der Überkomplexität zu erhalten gilt: Staunen als die alte neue erste Bürgerpflicht. Diese völlig begründungs- und erklärungsfreie Schrift - ein Ausruf ad hoc, kaum mehr - reißt aus dem Defätismus heraus, aus den Ohnmachtsgefühlen, die die globale Vernetzung gebiert.
Sie warnt vor beidem: vor der Lähmung der Antriebe wie vor der ungenauen fundamentalistischen Erhebung, vor der Fundamentalopposition gegen die Welt, wie sie ist. „Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen - die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? Wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie.“ Warum 3,99 Euro für diese dreißig Seiten hinlegen? Weil man dafür ein Lebenselixier erhält, eine Erinnerung an das Beste in uns.