Sloterdijks Notizbücher : Kann man sich Hegel beim Fernsehen vorstellen?
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Der Autor als Kunstgegenstand: Margret Eichers Wandteppich „Peter Sloterdijk vor der heiligen Inquisition des Trivialgeschmacks“ Bild: dpa
Wenn sich das eigene Gehirn anfühlt wie das Zentralkomitee einer Partei, die zu lange an der Macht war: Der Philosoph Peter Sloterdijk öffnet mit „Zeilen und Tage“ seine Notizbücher.
Ursula anrufen.“ Dieser genügsame Fürsorgeimperativ steht ohne Befehlszeichen, aber mit dem Gewicht seiner schieren Evidenz ganz rührend und einsam im ersten Drittel des heute erscheinenden Tagebuchs, besser wohl: Journals oder Notizkonvoluts Peter Sloterdijks. Ein rätselhaft schlichter Findling, am 19. Mai 2009 zu New York in die Welt gesetzt, ragt einsam aus dem Meer tief gründender Absätze, Aphorismen und weitreichender Ausführungen. Warum überrascht uns der sonst überlegt ausführende und -deutende Autor mit einer uns Unbekannten, von der wir nun allein wissen, wie sie heißt und dass sie angerufen werden soll? Winkt er ihr aus zwanzigtausend Zeilen heimlich zu? Hat der Autor das Steinchen (als Lapidar oder Lapsus?) auf die Lesestrecke gekullert, den Leser zu verhaspeln, damit er verdutzt den unablässigen Geistreichtum um so mehr wertschätze? - Nein. Da hätte er mehr Ursulinen streuen müssen. Aber ihrer bedarf es nicht.
Das Buch sorgt selbst für Spannungswechsel und variablen Wellengang. Reflektiertes Erleben, Bonmots und Lektüreerträge fügen sich zu ungezählten Ansichten (im doppelten Sinne - und ähnlich und anders als die Georg Forsters vom Niederrhein); Ansichten, die zu verblüffen wissen, ein- und aufleuchten. Der Leser lustwandelt auf Kurzstrecken und stemmt Halbdistanzen; ein Tour-de-force-Buch über leichte und schwere Etappen.
Merkwürdig und amüsant
In solchen Büchern pflegt man kleine wie große Dinge zu erörtern - beides schwierig; die kleinen übersieht man leicht, die großen sieht man erst gar nicht. Also sagt der Diarist: Seht hin, die Dinge sind doch im Grunde so einfach (einfach so): „Der Raum ist nur ein Mittel, zu verhindern, dass sich alles an derselben Stelle befindet.“ - So ist es. Das Einfache freilich ist, wie wir von Clausewitz wissen, schwierig. Und diese der Einfachheit des Lebens, hier eines Philosophenlebens, sich zu verdankenden Schwierigkeiten - welche es auch sein mögen, der Autor muss sich ihrer nur angenommen haben - erörtert er leichtgängig, elegant, plausibel, fachgemäß. Man staunt über die Weite und das vielmals Treffliche seiner Sätze und Sentenzen. Da waltet freigiebige Findigkeit: Die Entdeckung, Lacans „Name des Vaters“ (Nom-du-Père) sei ja die den Sohn und den Heiligen Geist unterschlagende Dreifaltigkeitsformel, darf sein Finder fortan für sich verbuchen.
Sloterdijk bemerkt einführend, er habe die merkwürdigen und amüsanten seiner Notizen belassen (wenn auch abermals gestriegelt), die belanglosen und ganz peinlichen dagegen für den Druck getilgt; das Gestrichene überwiege drei zu eins - geblieben sind uns somit sechshundertvierzig Seiten von beinahe zweitausend. Schade. Denn der Leser (vulgo ich; der ja, so Heinz von Förster, die Bedeutung eines Textes bestimmt, ihm auch Wünsche anträgt) frohlockte immer gerade dann, wenn über den Zeilen der Sinnreichtum und Duft des Banalen und des Peinlichen aufbrach. Warum sonst liest alle Welt Samuel Pepys’ Belanglosigkeiten gern? Weil er uns damit in eine Welt führt und wir sie so noch heute zu schmecken und riechen meinen.