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: Schöner neuer Sozialismus

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Nun das müde Lächeln einmal beiseite: Über die Idee, alte Schriften aus den fünfziger Jahren über den "Inhalt des Sozialismus" auszugraben, darf offen gelacht werden. Wo Gesellschaftstheorie und politische Aktion heute blinde Kuh spielen, wo die eine nur noch die Schattenstellen des sieghaften Kapitalismus abklopft ...

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          Nun das müde Lächeln einmal beiseite: Über die Idee, alte Schriften aus den fünfziger Jahren über den "Inhalt des Sozialismus" auszugraben, darf offen gelacht werden. Wo Gesellschaftstheorie und politische Aktion heute blinde Kuh spielen, wo die eine nur noch die Schattenstellen des sieghaften Kapitalismus abklopft und die andere mit abgewetzten Begriffen die damit einhergehende wachsende Aversion gegen die "Heuschrecken" einfängt, ist die Nachfrage nach solchen Publikationen vernachlässigbar. Wie viele Autoren gibt es, deren fünfzig Jahre alte Programmschriften darüber, wie der Sozialismus konkret auszusehen hätte, heute noch lesbar sind? Ein halbe Hand genügt wohl. Einer von ihnen ist Castoriadis.

          Das Paradoxe an der Rezeption dieses vor zehn Jahren verstorbenen Autors liegt darin, dass man ihn meistens auf seine frühe Sowjetkritik und auf sein 1975 erschienenes Hauptwerk "Gesellschaft als imaginäre Institution" festlegt. Dabei drängt alles im Werk dieses Denkers, der mehr eine Art Tiefenauslotung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse als einen endgültigen Gesellschaftsentwurf vorlegte, auf Weiterentwicklung und Umgestaltung. Wenn die Texte aus der Zeit, wo der nach dem Krieg aus Griechenland nach Paris Gekommene zusammen mit Claude Lefort, Jean-François Lyotard, Daniel Mothé zwischen 1949 und 1965 die trotzkistische Gruppe "Socialisme ou Barbarie" betrieb, später wiederholt aufgelegt wurden, dann nicht, weil der Autor nichts Neues mehr zu sagen hatte. Denken war für den, der Gesellschaft nur als fortwährende institutionelle Neuerfindung ihrer selbst durch ihre Mitglieder begriff, seinerseits eine Werkstatt des permanenten Materialumschichtens. Was Castoriadis dem Sowjet-Sozialismus und dem theoretisch ihm zugrundeliegenden Marxismus vorwarf, war gerade dessen bürokratische Starre, die den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess aussetzte und den "real existierenden" Sozialismus zu einem Nebenprodukt des Kapitalismus machte.

          Der hier vorgelegte zweite Band der Schriftenausgabe hilft, diese Denkbewegung im Werk besser zu fassen, und greift das schon dem ersten Band "Autonomie oder Barbarei" vorangestellte Stichwort wieder auf. Autonomie war theoretisch wie praktisch der Zentralbegriff, auf den hin Castoriadis in direkter Fortsetzung des Aufklärungsprogramms sein Gesellschaftskonzept anlegte. Gesellschaft verstand der Autor als ständige Selbstorganisation all ihrer Mitglieder - ein Prozess, der über die Aneignung der Produktionsmittel nach marxistischem Marschplan weit hinausgeht. Gesellschaft entsteht durch fortwährende Konfliktaustragung auf allen Ebenen, sie kennt keinen "letztlich determinierenden" Bereich, und sei es jener der Produktionsverhältnisse. Dies war der Standpunkt, zu dem Castoriadis in den siebziger Jahren gekommen war und den er im Eingangstext dieses Bandes unter dem Titel "Warum ich kein Marxist mehr bin" darlegt. Wie diese Entwicklung sich vollzog, dazu liefern die drei Texte "Über den Inhalt des Sozialismus" aus den Jahren 1955 bis 1958 interessante Hinweise.

          Dass der Sozialismus nach dem Fehlschlag des sowjetischen Experiments von Grund auf neu zu bestimmen war, erschien dem Philosophen und seinen Kollegen aus dem Kreis "Socialisme ou Barbarie" schon früh nach dem Krieg klar. Und es dämmerte ihnen, dass auch die trotzkistische Erklärung, die stalinistische Bürokratie sei bloß ein Unfall der Revolution gewesen, nicht reichte. Das der Antike entsprungene Projekt der Demokratie, das von der Aufklärungsphilosophie, der amerikanischen und der Französischen Revolution aufgegriffen und vom utopischen Sozialismus des frühen neunzehnten Jahrhunderts weitergetragen wurde, sei von der marxistischen Systemverkürzung auf Wert- und Warenproduktion erschlagen worden, konstatiert Castoriadis in diesen frühen Schriften - in dieser Einseitigkeit hätten Kapitalismus und Marxismus einander bestens verstanden. Das ganze Bestreben des Autors ging in der Folge dahin, ein emanzipatorisches Modell zu entwickeln, das Gesellschaftsentwicklung in all ihren Bereichen, auch in der Frauenbewegung, der künstlerischen Innovation, im Jugendprotest, begreift. Castoriadis war stets auch an der Diskussion über Realisierungsmöglichkeiten interessiert wie kollektive Betriebsführung, Einheitslohn, kreative Freizeitgestaltung für alle.

          Die Ferne solcher Vorstellungen von unserer pragmatisch entzauberten Gegenwartserfahrung haben manche Autoren wie Axel Honneth oder Hans Joas gelegentlich dazu veranlasst, zwischen einem frühen "politischen" und einem späten "philosophischen" Castoriadis zu unterscheiden. Die Herausgeber dieser Schriften verstehen ihr Editionsprojekt auch als Einspruch gegen eine solche Spaltung. Die schlüssige Auswahl der Texte dieses Bandes gibt ihnen ernsthafte Argumente in die Hand. Das Werk von Castoriadis ist in seiner Gesamtheit ein Wechselbrief darauf, dass unser real existierender Kapitalismus auch kein Endstadium sein kann. Wer die Frühschriften dieses Werks nicht mitlesen mag, dürfte auch vom Rest wenig haben.

          JOSEPH HANIMANN

          Cornelius Castoriadis: "Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft". Über den Inhalt des Sozialismus. Ausgewählte Schriften, Band 2.1. Herausgegeben von Michael Halfbrodt und Harald Wolf. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Verlag Edition AV, Lich/Hessen 2007. 246 S., br., 17,- [Euro].

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