Lob des Sauerlands : Für viele ist diese Region immer noch Terra incognita
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Keine Spekulanten eben, sondern Fabrikanten: die Firma Basse & Selve in Altena, die im Kaiserreich einer der größten deutschen Metallwarenhersteller und später für einige Zeit Teil des Krupp-Konzerns war, um 1910. Bild: Historisches Krupp Archiv
Was am Sauerland zu loben ist: Ulrich Raulff widmet sich einem der unverstandensten Stämme unter den Deutschen und schreibt dabei auch ein Stück Autobiographie.
Ein Foto der Drüggelter Kapelle am Möhnesee, das Bertha und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach 1936 auf dem Weg zu einer Jagdveranstaltung knipsten; eine 1962 angefertigte Zeichnung des Ahe-Hammers zwischen Herscheid und Werdohl, der, damals vierhundert Jahre alt, wenig später vom Krupp-Konzern übernommen wurde; eine um 1910 entstandene Panoramaansicht des Werks Linscheid an der Lenne in Altena, das nach mehreren Fusionen von 1989 bis 2015 Krupp gehörte; Fotografien von Talsperren und Brücken, Erholungs- und Jugendheimen, Landschaften und der Natur, darunter ein paar, bei denen Albert Renger-Patzsch Pate stand; Werbegrafik, Briefe, Briefköpfe, Kontoauszüge sowie eine Aufnahme von den Karl-May-Festspielen in Elspe, wo das Dach über der Tribüne von einer Krupp-Tochter hergestellt wurde.
Es sind keine zwei Dutzend Abbildungen, die der schmale Band enthält, Dokumente aus dem Historischen Archiv Krupp, die meisten bisher unveröffentlicht, von denen jedes die Verbindung des Unternehmens mit dem Sauerland belegt. Doch die Auswahl ist zu klein und zu heterogen, als dass daraus eine Erzählung würde. Die wird sie erst durch Ulrich Raulff, der sie zum Anlass für einen kleinen, komplexen Essay nimmt: „Sauerland als Lebensform“ porträtiert „einen der unbekanntesten und unverstandensten Stämme unter den Deutschen“ und lässt eine Region, die für viele Terra incognita ist, Konturen, Farben, Leuchtkraft gewinnen. Und kein Friedrich Merz trübt das Bild.
Wo Verbotsschilder missachtet und Kopfsprünge geübt wurden
Die Darstellung beginnt bei Caesar, der gar nicht bis ins Sauerland kam, und ist mit Heinrich Lübke aus Enkhausen und Carl Schmitt aus Plettenberg noch nicht zu Ende. Die beiden stehen in derselben Zeile, die Dichotomie wird – historisch, politisch, konfessionell, ästhetisch – zum Merkmal und zum Schlüssel. Das Sauerland wird vermessen und mit seiner Kleineisenindustrie ins Verhältnis zu seinen Nachbarn gesetzt. Die Attribute überbieten sich: „Freiluftsanatorium zur Regeneration erschöpfter Menschen“, „Villeggiatur des Ruhrgebiets“, „regenreiche Riviera des Reviers“, „Dolomiten der Niederlande“! Die Landschaft umgestaltet hat der Ingenieur Otto Intze, indem er die Topographie für Staudämme nutzte, um die Wasserversorgung zu sichern und Antriebswasser vorzuhalten. Die monumentale Architektur und die künstlichen Seen wurden touristische Attraktionen.
Raulff würdigt die Talsperre als Ingenieurbaukunst, aber auch als Abenteuerspielplatz der Kindheit, wo jedes Verbotsschild missachtet und Kopfsprung geübt, mit Booten in die Schlacht gezogen und Löschwasser geschöpft wurde. Zwischen kulturhistorischer Abhandlung und persönlicher Erinnerung changierend, kommt er, assoziativ und kenntnisreich, auf viele Themen. Das reicht von Arbeitererholung über Biersorten und Dialekt, Fernwanderweg und Kartoffelernte, Regenwetter und Waldwirtschaft bis Zwangsarbeiter. Raulff schreibt eine schlanke, federnde, ironisch zwinkernde Prosa, und wenn er doch mal ins Plaudern gerät, zieht er gewitzt die Notbremse: „Die nächste Folge unseres großen Landromans ‚Das sündige Dorf‘ lesen Sie in der nächsten Woche. An dieser Stelle geht es weiter mit Heimatkunde.“