Die 'Ndrangheta : Sie schöpft Macht aus der Traumatisierung ihrer Opfer
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Juli 2022 in Mailand: Demonstration gegen die 'Ndrangheta Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com
Von Süditalien in die Welt und auch nach Deutschland: Die niederländische Journalistin Sanne de Boer folgt den Spuren der kalabrischen Mafiavereinigung ’Ndrangheta.
Im September 2007 trat die Mafia in Sanne de Boers Leben. In ihrer Straße brannte ein Auto. Es gehörte einer jungen Nachbarin, die in der Gemeindeverwaltung Bauanträge bearbeitete. Jemand schien mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden zu sein. Die Nachbarin hatte einen Verdacht, wer die Täter waren. Darüber sprechen wollte sie nicht.
Als de Boer ein Dreivierteljahr zuvor aus Amsterdam nach Kalabrien gezogen war, in ein Dorf auf einem Hügel über dem Meer, hatte sie keine Ahnung von der ’Ndrangheta, der Mafia, die hier an der Spitze des italienischen Stiefels ihre Heimat hat. Es war der „Duft selbstgepflückter Orangen“, der die niederländische Journalistin begeisterte, die Gastfreundschaft, die schroffe Herzlichkeit. Beim Thema Mafia schwiegen sich auch ihre neuen Nachbarn aus. Die Gemeindemitarbeiterin, deren Auto angezündet wurde, ging nicht einmal zur Polizei. Stattdessen suchte sie sich einen neuen Job. De Boer fragte nicht weiter nach. Und lieh der Frau ihr Auto.
De Boers kalabrisches Idyll aber war beschädigt. Sie versuchte, mehr über die ’Ndrangheta herauszufinden, über diese kriminelle Organisation, die scheinbar unsichtbar und unantastbar in dem Bergdorf waltete und zur selben Zeit weltweit in den Schlagzeilen war, weil ihre Killer vor einer Pizzeria in Duisburg sechs Männer erschossen hatten. Die Journalistin suchte Menschen, die es wagten, mit ihr über die Mafia zu sprechen: Aktivisten, Opfer, Kronzeugen, Staatsanwälte, Journalisten, Forscher. De Boer las Ermittlungs- und Gerichtsakten. Sie folgte den Spuren der Mafiosi, die sie zurück in die Niederlande führten – und nach Deutschland, wo die ’Ndrangheta besonders feste Wurzeln geschlagen hat.
Eine tödliche Menge Salzsäure
Ihre Leser nimmt de Boer mit auf diese Spurensuche. Sie zeigt, wie fest die Mafiaclans Kalabrien im Würgegriff halten, mit welcher Menschenfeindlichkeit und Machtgier; wie sie die kalabrische Kultur, tradierte Werte und Verhaltensweisen für ihre Zwecke verdrehen und missbrauchen; wie „Bauern und Schafhirten mit kriminellen Neigungen“ zu „verschwiegenen Meistern der Entführung“ und schließlich zu „verschwiegenen Meistern im Handel harter Drogen“ wurden.
Wie die ’Ndrangheta auf fünf Kontinenten agiert, ohne je die Verbindung in die Heimat zu verlieren. Wie sie sich immer wieder wandelt, anpasst, wie sie die kriminelle Welt verlässt und in Politik und Wirtschaft einsickert. „Die Mafia wuchert wie ein Krebsgeschwür innerhalb eines Körpers und nicht davon losgelöst, sie benutzt die gesunden Zellen, um zu wachsen“, sagt der Staatsanwalt Antonio De Bernardo. „Die Mafia wächst und gedeiht, eben weil sie Teil der Gesellschaft ist.“
De Boer hört ihren Gesprächspartnern geduldig zu, lässt ihnen viel Raum, ihre Geschichten zu erzählen, oft über ganze Kapitel hinweg. Da ist der kalabrische Bauunternehmer, der Jahr um Jahr den Erpressungen der lokalen Bosse ausgeliefert ist, immer kurz davor, auch selbst in deren Machenschaften hineingezogen zu werden, und den sie, als er sich schließlich zur Wehr setzt, wirtschaftlich in den Ruin und gesellschaftlich in die Isolation treiben; der Kronzeuge, der in einer ’Ndrangheta-Familie aufwächst wie in einem „Volksstamm mit einer eigenen Religion und einem eigenen Lebensstil“, schon als Kind auf Gewalt getrimmt; die Ermittler, die ihr Leben dem Kampf gegen die Mafia unter- und ihre Freiheiten in die Zwänge des 24/7-Polizeischutzes einordnen; die Opfer, die nicht mehr selbst erzählen können, etwa weil sie sich als Frauen gegen ihre Rolle in den patriarchalischen Clans aufgelehnt hatten und deshalb erdrosselt und verbrannt oder gezwungen wurden, eine tödliche Menge Salzsäure zu trinken.