Polizeiwillkür in Amerika : Nirgendwo sonst sitzen so viele Bürger im Gefängnis
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Bürger protestieren in Madison, Wisconsin, weil nach der Erschießung eines Schwarzen durch einen Polizisten keine Anzeige erhoben wurde Bild: Reuters
Es ist ein erschreckendes Bild der amerikanischen Polizei und Justiz, das Bryan Stevenson in seinem Buch zeichnet. Sind die Schwächen des Systems das Produkt gesellschaftlicher Interessen?
Das System funktioniert! Diesem ewigen Mantra amerikanischer Kriminalserien und Justizfilme aus den vergangenen sechzig Jahren stellt Bryan Stevenson ein entschiedenes Nein entgegen. Nein, das System funktioniert nicht. Nein, die Anzahl genialer Polizisten und erstklassiger Wissenschaftler in den Polizeibehörden der Vereinigten Staaten hält sich in überschaubaren Grenzen. Nein, Jurys sind kein Allheilmittel, und das gesunde Volksempfinden, das sie repräsentieren sollen, ist allzu oft mindestens so blind wie die Justitia der Rechtsexperten, der Anwälte, Richter und Gutachter.
Seit Jahrzehnten verteidigt der in Harvard ausgebildete Rechtsanwalt Stevenson jene, die eigentlich keine Chance mehr haben: verurteilte Mörder in den Todeszellen des Südens oder jugendliche Straftäter, die als Acht- oder Dreizehnjährige, als Kinder, zu lebenslanger Haft ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verurteilt wurden – für Delikte, für die ein Erwachsener zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre einsitzen würde. Dabei ist Stevenson kein liberaler Gutmensch. Er ist schwarz, aber er verzichtet darauf, die Position des zornigen Schwarzen einzunehmen, die seit Ferguson medial wohlfeil geworden ist. Sein Großvater wurde von jugendlichen schwarzen Gangmitgliedern wegen eines alten Fernsehapparates sinnlos ermordet. Dennoch weiß er nur zu gut, an welchen Schwächen ein Justizsystem krankt, das die Begriffe Gnade oder selbst Verständnis aus seinem Vokabular verbannt hat.
Beweise wurden fabriziert, Zeugen unter Druck gesetzt
Besonders schlimm aber wird es, wenn selbst bescheidene Ansprüche auf formale Gerechtigkeit verlorengehen. Ein solcher Fall aber bildet den erzählerischen Rahmen von Stevensons Buch: der Kampf um die Freilassung des Todeskandidaten Walter McMillian, der in den neunziger Jahren in den Vereinigten Staaten für großes Aufsehen sorgte. Walter McMillian war ein schwarzer Kleinunternehmer aus Monroeville in Alabama, dem Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter unter dem Druck der Öffentlichkeit den Mord an einer jungen weißen Frau aus einem einzigen Grund in die Schuhe schoben – wegen seines Verhältnisses mit einer weißen Frau.
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Gemeinsam mit den lokalen Medien, die wie immer rasche Aufklärung verlangten, strickte man eine Geschichte, in der McMillian am Ende zum Oberhaupt der Mafia von Alabama mutierte. Beweise wurde fabriziert, Zeugen unter Druck gesetzt und selbst mit der Todesstrafe bedroht.
Diese Geschichte erzählt Stevenson emotional, dicht und engagiert. Aber nicht Gefühle allein beherrschen dieses Buch, sondern eine Mischung aus Fassungslosigkeit und kühler Analyse. Stevenson legt seinen Finger auf die Probleme amerikanischer Rechtsprechung, wobei er auf simple Erklärungen verzichtet. Es sind weder die Waffenkultur noch der Rassismus allein, obwohl Rasse ganz ohne Zweifel ein entscheidender Faktor ist. Vierzig Prozent der Insassen des Todestraktes in Alabama waren 1996 weiß. Aber kein einziger Todeskandidat war wohlhabend, um von reich gar nicht erst zu reden. Anderes ist aber mindestens ebenso wichtig, etwa der Einfluss der Opferverbände, die indes nahezu ausschließlich Opfer von Gewaltverbrechen aus der weißen Mittelklasse repräsentieren.
Eine Lobby aus diesen weißen Opferverbänden, der Gefängnisindustrie, den sensationssüchtigen Medien, von pseudokonservativen Politikern und obskuren Wissenschaftlern hat seit den achtziger und neunziger Jahren dafür gesorgt, eine möglichst harte Justiz mit einem System mandatorischer Mindeststrafen beständig drakonischer werden zu lassen, während jedwede Form der Sozialhilfe für Täter als weichlich denunziert wurde.