Völkermord im NS-Regime : Wer den deutschen Sieg bedrohte, musste sterben
- -Aktualisiert am
Widerstandskämpfer beim Aufstand im Warschauer Ghetto im Jahr 1943 Bild: picture-alliance / akg-images
Rassismus, Antisemitismus und das Trauma der Niederlage von 1918: Kay analysiert die nationalsozialistische Vernichtungspolitik als Teil einer Kriegsstrategie. Die Zielgruppe des Buchs bleibt unklar.
Während die Frage nach dem „Wie?“ der Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutsche Reich früh geklärt werden konnte, bleibt das „Warum?“ bis heute eine offene, viel diskutierte Forschungsfrage. Nachdem Raul Hilberg schon 1961 in seinem Pionierwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ den Holocaust detailliert und überzeugend als einen arbeitsteiligen Verfolgungs- und Mordprozess erklärte, an dem Millionen von stillschweigenden Mitläufern, Angestellten in Banken und Versicherungen, Beamte auf kommunaler Ebene bis zu Wehrmacht, Reichsbahn und Auswärtigem Amt mitwirkten und bei dem es über die Judenräte sogar gelang, die Opfer selbst zu Werkzeugen ihrer eigenen Vernichtung zu machen, scheiterte Hilberg an seinem nächsten Forschungsvorhaben, das sich dem „Warum?“ widmen sollte.
Saul Friedländer erweiterte Hilbergs täterzentrierte Perspektive gut drei Jahrzehnte später zu einer „integrierten Holocaustgeschichte“, die den Täterdokumenten die Zeugnisse von Verfolgten und Überlebenden gleichberechtigt zur Seite stellte. Zugleich beharrte Friedländer darauf, dass der Holocaust wegen seines „absoluten Charakters“ nur singulär betrachtet und nicht etwa in einem größeren Bezugsrahmen unter andere nationalsozialistische Massenverbrechen subsumiert werden könne.
Wiederum einige Jahrzehnte später widerspricht der britisch-deutsche Historiker Alex J. Kay ausdrücklich diesem Diktum und legt nun unter dem sprechenden Titel „Das Reich der Vernichtung“ in sicher nicht zufälliger Anlehnung an Friedländers Wortwahl eine „integrative Geschichte“ des nationalsozialistischen Massenmordens vor, in der er sich auch an einer Antwort auf die „Warum?“-Frage versucht.
In seiner Darstellung wird der Holocaust als einer von sieben Verbrechenskomplexen analysiert – wenngleich die europäischen Juden mit 5,8 Millionen Toten unter den von Kay konstatierten insgesamt dreizehn Millionen zivilen Mordopfern der NS-Vernichtungspolitik den zahlenmäßig größten Anteil ausmachten und er den Judenmord im Unterschied zu den anderen Gewalttaten als „beispielloses Phänomen“ hervorhebt.
Eine auf die Täter fokussierte Darstellung
Neben dem Holocaust werden sechs weitere systematische NS-Massenmorde und Hauptopfergruppen untersucht: die Kriegsgefangenen der Roten Armee, die europäischen Roma, die Insassen von psychiatrischen Einrichtungen und Krankenhäusern, die sowjetische Stadtbevölkerung, die polnische Führungsschicht und die Zivilisten aus vor allem ost- und südosteuropäischen Kleinstädten und Dörfern, die unter dem Vorwand der „Partisanenbekämpfung“ ermordet wurden. Sein Kriterium für diese Kategorisierung der Opfergruppen ist dabei die nicht weiter erläuterte Mindestzahl von jeweils 100.000 Toten pro Gruppe, sodass etwa die als Homosexuelle verfolgten und getöteten Menschen nicht in die Betrachtung einfließen.
Allen diesen Opfergruppen ist nach Kay vor allem aber gemeinsam, dass sie als ernsthafte Gefahr für eine erfolgreiche Kriegsführung der Nationalsozialisten galten. Demnach lässt sich die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht von der Kriegsführung trennen. Beide verfolgten das gleiche Ziel: den Krieg um jeden Preis zu gewinnen.