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Ein Guide zu absolut allem : Wenn das Bauchgefühl ins Schwimmen kommt

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Ob Haustiere ihre Besitzer lieben? Umstritten. Klar ist aber: Wenn es ums (schlechtere) Essen geht, empfinden Laborratten schnell Reue Bild: dpa

Unter dem Stern ironischer Selbstreferenz: Die Podcaster Hannah Fry und Adam Rutherford legen ein Buch vor, in dem sie die Welt erklären.

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          Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es um die Gefühle hungriger Ratten bestellt ist? Oder wie viel Primärfarben es gibt, wenn man den Blick einmal über den Tellerrand des menschlichen Sehsinns hinaus richtet? Und wie sich das zur Selbstlegitimation von Weltuntergangskulten verhält? Zumindest Letzteres lässt sich laut Hannah Fry und Adam Rutherford ganz fix beantworten, es habe nämlich alles miteinander zu tun – und nichts.

          Unter dem Motto „Neugier allein genügt nicht“ versammeln der Genetiker und die Mathematikerin in einer als Kompendium kaum tauglichen Collage mit dem Titel „Der ultimative Guide zu absolut Allem“ neun vage zusammenhängende Angelegenheiten, die den Menschen umtreiben. Allesamt liegen ihnen Fragen zugrunde, deren Antworten nicht in der Magengrube gefunden werden können, oder wo auch immer die menschliche Intuition beheimatet sein mag. Sie sind Teil einer Sphäre, die der Mensch bloß mit wissenschaftlichen Methoden zu erklären vermag.

          Die Bibliothek von Babel

          Gleich die erste Phantasie, an der sich die Autoren abarbeiten, ist die alles umfassende Bibliothek, wie sie Jorge Luis Borges mit der Bibliothek von Babel 1941 entwarf. „Eine Bi­bliothek, die sämtliches denkbares Wissen enthält, könnte genauso gut keine Spur von Wissen enthalten“, heißt es ausgerechnet in einem Buch, das von sich selbst schon im Titel behauptet, nicht weniger als alles zu erklären, und auf dreihundert Seiten Raum findet für eine Geschichte des Universums, der Zeit, geometrischer Figuren, dem freien Willen und der Tierliebe.

          Deshalb malt man in groben Zügen, lässt großzügig aus und kündigt das schon im Titel in einer Fußnote an („gekürzt“), die nur die erste von ziemlich vielen ist. Immerhin liefern sie als Ort humorvoller Exkurse und persönlicher Eingeständnisse nicht selten Pointen und Spitzfindigkeiten. Besonderes Schmankerl: zahlreiche völlig obsolete und deshalb umso spannendere Filmreferenzen, die wohl Rutherford zu verdanken sind.

          Hannah Fry und Adam Rutherford: „Der ultimative Guide zu absolut Allem* (*gekürzt)“.
          Hannah Fry und Adam Rutherford: „Der ultimative Guide zu absolut Allem* (*gekürzt)“. : Bild: C.H. Beck Verlag

          Recht farblos bleibt dagegen die thematische Auswahl dieses Lobgesangs der Empirie. Fast alles meint man schon einmal irgendwo gehört zu haben, und tatsächlich enthält das Buch nur wenig Stoff für Aha-Momente. Bei jenen Lesern, die eine Nähe zur Wissenschaft haben, dürfte sich ein vages Gefühl der Enttäuschung über so viel Ungenauigkeit und Simplifizierung einstellen.

          Humorvoll statt erkenntnisreich

          Wenn die Verwendung von Algorithmen an der Börse zum „raubtierkapitalistischen Hochfrequenzhandel“ stilisiert wird und an anderer Stelle die sozialen Medien als „Echokammern des Bestätigungsfehlers“ funktionieren, ist es weniger die Einschätzung der am University College London beschäftigten Wissenschaftler als ihr Humor, der noch etwas für sich hat. Den kuratieren sie im Übrigen bereits seit 2016 als Moderatoren der BBC-Podcastserie „The Curious Cases of Rutherford & Fry“.

          Da ist es nur passend, dass die eine Sache, die man in diesem Buch bekannter Dinge vermutlich zum ersten Mal erfährt, ein Kuriosum ist: Alle Säugetiere, das habe eine Studie im Jahr 2014 gezeigt, brauchten zum Entleeren einer vollen Blase knapp 21 Sekunden (Fehlertoleranz: 13 Sekunden). Ob das einen „Guide“ zur Welt ausmacht? Den, darauf beharren Rutherford und Fry mit Hingabe (und Redundanz), kann nur die Nicht-Wissen lehrende Wissenschaft bereithalten. Dass Letztere, genau wie der durch Zucht begünstigte Hundeblick, natürlich „Menschenwerk“ ist und als solches von voreingenommenen, intuitiv agierenden Leuten wie den Autoren betrieben wird, ist wohl die wirkliche Pointe dieser Lektüre.

          Es ist schwer zu sagen, ob das Projekt von vornherein unter einem solchen Stern ironischer Selbstreferenz stand, den Autoren wäre es zuzutrauen. Aber jetzt ist der „ultimative Guide“ ein gutes Exempel dafür, dass manches besser in kleinen Portionen serviert wird, bevor man sich in den großen Schleifen konstanter Relativierungen verliert. Im Übrigen kursiert eine Ausgabe des Originals mit dem Untertitel „Abenteuer in Mathematik und Wissenschaft“. Selbst mit entsprechend angepassten Erwartungen darf man sich folgenden Hinweis erlauben: Mit dem englischsprachigen Podcast ist man besser beraten.

          Hannah Fry und Adam Rutherford: „Der ultimative Guide zu absolut Allem* (*gekürzt)“. Aus dem Englischen von Hans-Peter Remmler. C. H. Beck Verlag, München 2023. 286 S., Abb., geb., 23,– €.

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