Robert Pfaller: Wofür es sich zu leben lohnt : Das Leben ist der Güter höchstes nicht
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Wenn der Alltag nur noch eine Weichspülversion des Lebens ist: Der Wiener Kulturwissenschaftler Robert Pfaller präsentiert Elemente materialistischer Philosophie als Aufforderung zu mehr Genuss und Lebensfreude.
Jeder Flugpassagier weiß, dass eine Reise heutzutage mit einem öffentlichen Striptease beginnt. Das Gepäck ist aufgegeben, man müsste nur noch zum Flugsteig, bevor man sich entspannt in die Ledersitze des Flugzeugs fallen lassen kann. Doch zuvor heißt es: Schuhe ausziehen, Gürtel aus dem Bund. Mit einer Hand sucht man seine sieben Sachen zusammen, mit der anderen die Hose am Rutschen zu hindern. Der Wiener Philosoph Robert Pfaller beschreibt diese Prozedur als symptomatisch für die Gegenwart, die das Leben höher schätze als die Würde. Provokant fragt er, „ob es nicht besser (sei), einmal gebombt als tausendmal erniedrigt zu werden“.
Wer hier Lebensmüdigkeit vermutet, liegt allerdings falsch. Das Beispiel zeigt vielmehr, welche - zum Teil absurden - Vorschriften heute ohne Murren akzeptiert werden. Wenn es tatsächlich um eine Verbesserung der Reisesicherheit ginge, dürfte kein ICE und keine U-Bahn mehr ohne Personenkontrolle fahren. Freiheit gibt es nicht ohne Restrisiko. Für Pfaller ist das Bestreben der Politik, das Leben um jeden Preis zu schützen, der sicherste Weg, es in eine Art von „vorzeitiger Leichenstarre“ zu verwandeln. Es geht ihm jedoch nicht um die Aufhebung lebenserhaltender Maßnahmen, sondern um deren kulturelle Dominanz, die jegliche Lebensfreude in den Schatten zu stellen droht.
Kehrseite der Abstinenz
„Wofür es sich zu leben lohnt“ heißt sein Buch. Eine große Frage, der er sich auf tastende und augenzwinkernde Weise nähert. Aber die Sache ist ihm doch ernst: Die reichsten Bevölkerungen seien in den letzten zwanzig Jahren immer biederer, lustfeindlicher und prüder geworden. Als Hauptschuldige nennt er neoliberale Ökonomie und postmoderne Ideologie. Sie hätten die Menschen um den Genuss elementarer Lebensqualitäten gebracht: volle Bürgerrechte, soziale Absicherung, Charme, Höflichkeit, Großzügigkeit, um nur einige zu nennen. Und was gibt es stattdessen? Sicherheit, Gesundheit und Kosteneffizienz. Gewiss ist Gesundheit ein hohes Gut. Aber „ein Leben, welches das Leben nicht riskieren will“, das hält Pfaller entschieden fest, „beginnt unweigerlich dem Tod zu gleichen“.
Aber was ist mit der sich so hedonistisch gerierenden Spaßgesellschaft? Comedy auf allen Kanälen, Pornographie, wohin man schaut, angestachelte Konsumfreude ohnehin. Doch in diesen Zügen sieht Pfaller nur die Kehrseite einer vorherrschenden Abstinenz. Wir hätten kein vernünftiges Verhältnis mehr zum Genuss, die Lust werde in neurotische Unlust verkehrt. Statt normaler Vorbilder: überall nur Zerrbilder. Pfaller ist dort am überzeugendsten, wo er frei aus dem Bauch heraus argumentiert.
Den Fanastismus in Schach halten
Wo er die gegenwärtigen Verhältnisse - vom Privatfernsehen über das Rauchverbot bis zur Bologna-Reform - aus dem Blickwinkel des intellektuellen Endvierzigers in den Blick nimmt. Ermüdend bis überflüssig sind dagegen die Passagen über den Neid als idealistisches Laster oder die finstere Seite der Tischmanieren. Ausführungen über Kannibalismus oder die krankhafte Neigung, Kot zu essen, scheinen thematisch eher fehl am Platz. Zuweilen fehlt der rote Faden, und der Autor scheint der unter Geisteswissenschaftlern nicht seltenen Vorstellung anzuhängen, dass ein Text umso überzeugender wirke, je mehr Theoretiker in ihn integriert sind.
Unberührt davon bleibt die überzeugende Maxime, dass es nicht bloß gelte, vernünftig zu sein, sondern das auch auf vernünftige Weise. Oder auf erwachsene Art erwachsen: „Erwachsensein bedeutet letztlich nichts anderes, als genau dazu in der Lage zu sein: auf die eigene Erwachsenheit auch mal für kurze Zeit pfeifen zu können.“ So könne der Fanatismus, der in immer mehr Bereichen um sich greife, in Schach gehalten werden.
Alles ist heute „ohne“
Das Spiel im Sinne des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga ist für Pfaller der Schlüssel zur Lebensfreude. Es stehe am Anfang jeglicher Kultur, sei aber seltsamerweise kontinuierlich auf dem Rückzug. Heute müsse man immer jemand sein und noch das Privateste nach außen kehren - ein mondänes „so tun, als ob“ sei verpönt. Dabei biete nur das Spiel als Gegensatz zur Wirklichkeit einen Ausweg aus der „knechtischen Existenz“, die das Leben sonst darstelle. Die besten Genüsse seien solche, die entstünden, sobald die Realität zugunsten des Spiels suspendiert werde.
Pfaller wendet sich gegen eine Politik, die den Bürgern „nichts als bekömmliche Dinge vor die Nase setzt“. Gesellschaftliche Veränderungen würden so unmöglich, der Citoyen werde zum Bourgeois degradiert. Der Diagnose, die der Philosoph bereits vor mehr als zehn Jahren in seinem Buch über „Interpassivität“ stellte, begegnet man auch hier wieder: Wir würden vom Kulturkapitalismus beherrscht, das Leben werde nicht gelebt, sondern häppchenweise konsumiert, der Alltag weichgespült: Alles ist heute „ohne“, „Kaffee ohne Koffein, Bier ohne Alkohol, Cola ohne Kalorien, Schlagobers ohne Fett, Sex ohne Körperkontakt, Religion ohne Leidenschaft“. Dass wir uns diese Reduzierung des Lebens als Gewinn verkaufen lassen, sollte zu denken geben.