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André Brétons „Nadja“ : Eine Wette auf das Wunderbare

„Ihre Farnaugen . . .“: Eines der Bilder, das André Breton in sein Buch „Nadja“ einfügte Bild: Archiv

Aus ihrer Begegnung wurde einer der bekanntesten surrealistischen Texte: Rita Bischof hat die Briefe und Zeichnungen Léona Delcourts ediert und eine exzellente Studie zu André Bretons „Nadja“ angefügt.

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          Die erste Begegnung fand am 4. Oktober 1926 statt, in der Rue Lafayette vor der Kirche Saint Vincent de Paul. So zumindest, wenn man seiner Beschreibung folgt. Hält man sich an ihre Briefe, war es vielleicht der 3. Oktober, ein Sonntag, und die Kirche eher Notre Dame de Lorette. Es wurde daraus jedenfalls keine Liebesgeschichte, oder doch nur eine einseitige, dafür aber ein berühmtes Buch des letzten Jahrhunderts, vielleicht sogar das meist gelesene der surrealistischen Bewegung. Denn er, das war André Breton, und ihr Name – oder besser: einer ihrer Namen – wurde zum Titel seines Buchs: „Nadja“.

          Helmut Mayer
          Redakteur im Feuilleton, zuständig für „Neue Sachbücher“.

          Das Buch ist nicht bloß keine Liebesgeschichte, sondern auch kein Roman, sondern Bretons Versuch, des Wunderbaren im Leben selbst habhaft zu werden und davon zu berichten. Verlässlich zu berichten, weshalb es eben auch auf die Orte und Daten ankam. Denn es ging darum, sich von Bedeutungen und Winken überraschen zu lassen, über die der Autor gerade nicht zu verfügen hatte, sondern denen zu folgen war. Ein heikles Unterfangen, im Leben nämlich, dessen moralische Angreifbarkeit und Risiken Breton durchaus sah.

          Breton hatte nicht geschummelt

          Denn Nadja verliebte sich ja in ihn und der Reiz, den sie auf Breton ausübte, das Ungewöhnliche ihres Verhaltens, ihre zwischen poetischer Inspiriertheit und Kitsch oszillierenden Sentenzen, ihre verrätselten Zeichnungen – das alles war nicht abzutrennen von ihrer prekären sozialen Randstellung und einer psychischen Labilität, die Breton schnell klar wurde.Es brauchte nicht lange und er ging auf Distanz, die Verabredungen wurden seltener, schließlich blieb es bei Briefen. Und im März 1927 beginnt Nadjas Leidensweg durch geschlossene Anstalten, bis zu ihrem Tod 1941 in einer Anstalt im okkupierten Nordfrankreich.

          An Vorwürfen gegen Breton, sein Buch auf Kosten dieser Frau geschrieben zu haben, hat es nicht gemangelt. Auch nicht an Verdächtigungen, in seinem Buch wohl doch nicht ganz dem Vorsatz der dokumentarischen Genauigkeit gefolgt zu sein und Nadja einiges aus eigener Feder beigelegt zu haben. „Die Pranke des Löwen umarmt die Brust des Weinbergs“ oder „Ich bin der Gedanke über dem Bad in dem spiegellosen Raum“: Sollte denn Sätze wie diese wirklich nicht von Breton selbst stammen? Doch je mehr man über die Entstehung des Textes in Erfahrung brachte, desto klarer wurde, dass es Breton mit seinem Programm, das er noch in den „Kommunizierenden Röhren“ und in „L’amour fou“ vertiefen sollte, durchaus ernst gewesen war. Er hatte nicht geschummelt.

          Auf den Spuren Léona Delcourts

          Um das zu sehen, brauchte es freilich einige Zeit, denn die Briefe und Zeichnungen Nadjas – Léona Delcourt mit bürgerlichem Namen – haben ihre eigene Geschichte. Breton verschenkte zu Lebzeiten einige der Zeichnungen, unter anderem als Beigaben zu Widmungsexemplaren von „Nadja“, andere gerieten nach seinem Tod oder erst mit der großen Versteigerung seines Archivs 2003 an die Öffentlichkeit. Manche Zeichnungen wurden in Auktionskatalogen, in denen sie auftauchten, allerdings auch nur genannt, ohne abgebildet zu werden. Andere scheinen sich zur Zeit der Einweisung Léona Delcourts in die Psychiatrie noch in deren Besitz befunden haben und kamen später auf anderen Wegen in den Besitz von Sammlern, wurden manchmal in Ausstellungen gezeigt.

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