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Sachbuch über den Holodomor : Tote proben keine Aufstände

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„Vernichten wir die Kulakenklasse“: Sowjetisches Plakat, um 1930 Bild: Picture-Alliance

Eine menschliche Katastrophe, ein Verbrechen und ein geschichtspolitisches Schlachtfeld: Anne Applebaum legt eine unentbehrliche Darstellung von Stalins Hungerkrieg gegen die Ukraine vor.

          3 Min.

          In der Sowjetunion, wo nach der Revolution 1917 noch etwa achtzig Prozent der Menschen auf dem Lande lebten, starben Millionen Menschen in Hungersnöten. Nicht so sehr klimatische Extreme als vielmehr die Agrarpolitik der Bolschewiki forderte 1921 etwa fünf Millionen Menschenleben. Nur zehn Jahre später führte Stalins forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft zu einer verheerenden Hungersnot mit dem Höhepunkt im Frühjahr 1933. Wiederum starben etwa fünf Millionen Menschen. Die Tragödie zu Beginn der dreißiger Jahre beschreibt „Roter Hunger“. Weil 3,9 Millionen der Opfer in der Ukraine lebten und etwa zeitgleich die Moskauer Führung die ukrainische Elite zu unterdrücken begann, trägt das Buch den Untertitel „Stalins Krieg gegen die Ukraine“.

          Dabei sollte die Kollektivierung der Landwirtschaft das Dauerproblem der Sowjetunion lösen: die immer wieder dramatischen Versorgungsengpässe. Außerdem benötigte die Industrialisierung Kapital, das die Bolschewiki nicht vom kapitalistischen Ausland beziehen konnten, sondern im Agrarsektor erwirtschaftet werden musste. Das ganze Konzept endete in einer Katastrophe, verursacht durch ideologischen Starrsinn, Verschwörungsdenken und zynische Ignoranz. Was die Moskauer Zentrale anordnete und die lokalen Behörden und Aktivisten durchsetzten, welche verheerenden Folgen sich daraus ergaben und wie die Menschen elendig litten und starben, davon handelt der eine Erzählstrang dieses Buches.

          Gewaltsame Kollektivierung

          Er berichtet von einem Verbrechen, in dessen Verlauf die Menschen zur viehischen Existenz degradiert wurden, die aus Hunger alles taten, um zu überleben, Taubenmist, Baumrinde und Leichen aßen, die in Häusern, auf den Straßen, in den Bahnhöfen starben und an Grenzpunkten, weil die Sowjetregierung sie nicht aus den Hungergebieten hinaus ließ. Sie half ihnen auch nicht. Obwohl die Katastrophe sich andeutete und sogar ukrainische Parteileute dringend vor dem Kommenden warnten, sahen Stalin und seine Büttel Sabotage und Verweigerung am sozialistischen Aufbau am Werk. Statt den Hungernden zu helfen, wollten sie die Steigerung der Getreideausfuhren erzwingen.

          Die gewaltsame Durchführung der Kollektivierung war die Voraussetzung der Tragödie. Sie vernichtete den seit Jahrhunderten bestehenden Bauernstand und ging einher mit der „Dekulakisierung“, der ökonomischen und physischen Vernichtung der wohlhabenden Bauern. Tausende wurden erschossen, noch mehr deportiert. In der Ukraine brachen Bauernaufstände los. Obwohl Stalin im März 1930 „vor Erfolgen schwindelte“, stand der Ukraine das Schlimmste noch bevor. Nicht zuletzt rigide staatliche Beschaffungskampagnen auch des Saatgetreides ließen die Hungersnot entstehen. Die Stalinisten hatten die schlichteste Regel der Landwirtschaft missachtet: kein Saatgetreide – keine Aussaat – keine Ernte – keine Nahrung, Ende.

          Moskau schärfte die Katastrophe

          An dieser Stelle kommt der bedeutendere, in dem Buch von vornherein eingeführte andere Erzählstrang ins Spiel. Applebaum webt die ukrainische Nationwerdung seit 1917 in die Geschichte der Katastrophe ein. Erst dadurch wird die Dimension des Geschehens offenkundig. Denn die Gebiete, die am stärksten unter dem Hunger zu leiden hatten, waren auch diejenigen, wo zuvor die Aufstände getobt hatten. Wo das ukrainische Bewusstsein am stärksten war, starben die Menschen am häufigsten. Moskau stellte gezielt eine Verbindung von „Sabotage“ an der Kollektivierung und ukrainischem Nationalismus her und unterdrückte zuerst ukrainische Kommunisten, dann auch die ukrainische intellektuelle Elite. Lieber nahm Stalin das Massensterben in Kauf, als die Ukraine zu „verlieren“, wie er schrieb. Applebaum spitzt zu: Nicht allein die Hungersnot, sondern mehr noch die Maßnahmen der Moskauer Regierung vermehrten das Sterben. Als der Staat endlich Erleichterungen gewährte, war die große Katastrophe fast schon vorbei.

          Zum Glück hört das Buch an dieser Stelle nicht auf. Der dritte Erzählstrang behandelt die historische Aufarbeitung und Kontroversen um den „Holodomor“. Unter diesem Begriff sind die Ereignisse in die Geschichte eingegangen und in der Ukraine nach 1991 zu einem zentralen Baustein der nationalen Erzählung geworden. Bis 1991 leugnete die Sowjetunion die spezifisch anti-ukrainische Stoßrichtung des Geschehens, aber die Öffnung der Archive in postsozialistischer Zeit schob dieser Möglichkeit einen Riegel vor. Seitdem ist der Holodomor ein geschichtspolitisches Schlachtfeld zwischen Russland und der Ukraine.

          War Stalins Krieg gegen die Ukraine ein Genozid? Zu den Stärken des Buches gehört die besonnene Diskussion dieser Frage, an deren Ende Applebaum den Begriff als nicht erkenntnisfördernd verwirft. Er führt aber auch in die stalinistische Teufelsküche, denn Applebaum registriert am Rande, dass die Hungersnot die kasachische Bevölkerung um ein Drittel dezimiert hat, prozentual weitaus mehr als die ukrainische. Das war kein Zufall, weil die Stalinisten im Kaukasus und im sowjetischen Mittelasien einen gnadenlosen Krieg gegen die lokalen Eliten und die traditionelle Lebensweise führten. Die deutschstämmige Bevölkerung besonders an der Wolga wurde nicht nur Opfer der „Dekulakisierung“, sondern litt extrem auch in der Hungersnot; und die betroffenen Gebiete Russlands zählten ebenfalls massenweise Tote.

          Applebaum hat eine bis zu Einzelschicksalen detaillierte Geschichte des Holodomor geschrieben. Auch wenn die Apologie des ukrainischen Nationalismus nicht jedem gefallen mag, so ist dieses Buch doch unentbehrlich. Es beschreibt einen Akt stalinistischer Barbarei, eine menschliche Katastrophe, und es erklärt seine Bedeutung für die heutige Ukraine.

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