Abbildung aus dem Buch „Der letzte Zug nach Moskau“: Mascha Tukazier (vorn) mit der Mutter des Autors, einer 1941 ermordeten Cousine und einem unbekannten Kavalier Bild: Archiv René Nyberg
Flucht aus Riga : Tante Maschas kluge Entscheidungen
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Zuflucht in Stalins Reich: Der finnische Politikwissenschaftler und Diplomat René Nyberg erzählt, wie seine jüdische Familie mit einigem Glück der Vernichtung entkam.
Der finnische Politikwissenschaftler und Diplomat René Nyberg, der sein Land als Botschafter in Berlin und zuvor in Moskau vertrat, hat jüdische Wurzeln, identifiziert sich jedoch mit der protestantischen Kultur. Seine in Helsinki aufgewachsene Mutter war von ihrer jüdischen Familie verstoßen worden, weil sie einen Christen heiratete, und bekehrte sich zum lutherischen Glauben, der, wie Nyberg überzeugt ist, zur Selbstbehauptung seiner Heimat gegen den Nachbarn Russland entscheidend beigetragen hat.
Vielleicht ist es dieser innere Abstand, der Nybergs jetzt auf Deutsch herausgekommene Geschichte seiner jüdischen Verwandtschaft, die zugleich ein Historienpanorama des osteuropäischen Judentums entwirft, so ungewöhnlich macht. Das minutiös recherchierte und von Angela Plöger präzis übersetzte Buch verklammert Familientragödien am nordwestlichen Rand der Sowjetunion mit der Darstellung der jüdischen Siedlungs- und Emanzipationsbewegung. All dies wird verbunden durch Nybergs objektiven Blick des Historikers, seine disziplinierte Vogelperspektive. Auch über schreckliche Dramen berichtet der Autor mit einer an Fakten orientierten Reserve, als habe er sich emotionale Adjektive verboten oder diese weggestrichen. Das Buch ist nicht zuletzt ein Hymnus auf Nybergs lebenskluge Tante Mascha, die als Einzige des Rigaer Zweigs der Familie überlebte, weil sie im Juni 1941 rechtzeitig vor den anrückenden Deutschen mit ihrem Mann den titelgebenden „Letzten Zug nach Moskau“ erwischte. Wie die Mutter, der sie bei deren Besuch im Jahr 1937 zur Liebesheirat mit dem „Goi“ zuriet, war Mascha Enkelin von Salman Tukazier aus der heute weißrussischen Stadt Orscha, einem der Ansiedlungsgebiete für Juden im russischen Zarenreich, die bis zur Februarrevolution bestanden, aber durchlässig wurden.
Wie, das erfährt man maßgeblich anhand von Alexander Solschenizyns nur auf Russisch vorliegender Monographie „Zweihundert Jahre gemeinsam“, die Historiker kritisieren, weil sie sich nur auf russische Quellen stützt, die Nyberg aber als Fundgrube schätzt. Unter dem Zaren konnten Juden, die sich zum Christentum bekehrten, Beamte werden. Solschenizyn betont, dass die Juden, die früher als andere Volksgruppen in die urbanen Zentren drängten, als Erste den Wert der Bildung für alle erkannt hätten.
Die kleine jüdische Gemeinde in Finnland geht auf zaristische Militärs zurück, die sich am Ort ihrer letzten Stationierung niederlassen durften. Einer von ihnen war Nybergs Großvater Meier Tokazier, ein ehemaliger Scharfschütze, der in Helsinki ein erfolgreicher Herrenausstatter wurde. Der Mann, der auf einem Foto ein wenig wie Marcel Proust aussieht, bewahrte größte Glaubensstrenge. Die Heirat der Tochter mit einem Nichtjuden versuchte er durch einen Haftbefehl zu verhindern. Als das nicht gelang, ließ er über sie das Totengebet Kaddisch sprechen, vollzog also einen rituellen Ehrenmord. Und als er ihr während des Winterkriegs im Luftschutzkeller begegnete, wünschte er ihr den Tod durch die nächste Bombe.