Sexualwissenschaft : Gestatten, Vollmann und Vollweib
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Saal im Institut für Sexualwissenschaft: Anschauungsmaterial zur Theorie der sexuellen Zwischenstufen, um 1930 Bild: picture-alliance / akg-images
Ein Kind der deutschen Revolution: Rainer Herrn legt eine exzellent verfasste Geschichte von Magnus Hirschfelds Berliner Institut für Sexualwissenschaft vor.
Es ist so bemerkenswert wie bedauerlich: In kaum einer Gesamtdarstellung zur Weimarer Geschichte findet das Institut für Sexualwissenschaft Erwähnung.
Auch fehlte bislang eine umfassende Studie über diese geradezu avantgardistische Einrichtung, die Berlin früh zu einem herausragenden Ort werden ließ, an dem in umfassender Weise das Thema der Sexualität verhandelt wurde. Mit seiner Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft schließt Rainer Herrn diese Lücke.
Als Resultat präsentiert er glücklicherweise nicht bloß ein gut zu lesendes Buch über eine in Vergessenheit geratene Institution, sondern ein skrupulös aus den Quellen gearbeitetes Werk eingehender Forschung. Zu seinen Stärken gehört eine Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln mit wissenschafts-, kultur-, gesellschafts- und rechtsgeschichtlichen Fluchtpunkten. Außerdem ist einiges über die Biographien der handelnden Akteure zu erfahren. Im Mittelpunkt steht mit Magnus Hirschfeld der Gründer und Protagonist des Instituts.
Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit
Seinem persönlichen, auch finanziellen Einsatz war im Juli 1919 die Schaffung des Instituts für Sexualwissenschaft zu verdanken. Ohne die Aufbruchsstimmung am Ende des Weltkriegs wäre dieses „Kind der Revolution“, von dem Hirschfeld sprach, nicht in die Welt gesetzt worden. Zunächst eine private Einrichtung, errang es erst von 1924 an den Status einer „staatlich genehmigten und als gemeinnützig anerkannten öffentlichen rechtsfähigen Stiftung“, der Dr.-Magnus-Hirschfeld-Stiftung.
Der 1868 in Kolberg geborene Hirschfeld hatte sich bereits ab der Jahrhundertwende für die Entkriminalisierung der Homosexualität eingesetzt. Feierten ihn die einen dafür, so überzogen ihn die anderen mit einer Mischung aus antihomoerotischer und antisemitischer Hetze. Frühzeitig kämpfte Hirschfeld, der selbst homosexuell war, ohne sich je zu outen, an zwei Fronten: einerseits an einer reformpolitischen, andererseits an einer wissenschaftlichen. Im Idealfall wollte er beides miteinander verbinden. Sein Leitspruch lautete: „per scientiam ad justitiam“, durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit.
Als Kopf des Wissenschaftlich-humanitären Komitees machte er sich für die Abschaffung des § 175 des Strafgesetzbuches stark, der männliche homosexuelle Handlungen im Kaiserreich wie der Weimarer Republik unter Strafe stellte. Eingehend schildert Herrn auch weitere Reformvorstöße – erst des „Aktions-Ausschusses“, später des „Kartells für Reform des Sexualstrafrechts“ und der „Weltliga für Sexualreform“. Sie alle waren eng mit dem Berliner Institut und Hirschfelds Namen verbunden. Als sein publizistischer Mitstreiter Kurt Hiller 1922 das Buch „§ 175: die Schmach des Jahrhunderts!“ veröffentlichte, konnte er noch nicht wissen, wie richtig er lag, wurde der Strafrechtsparagraph aus dem Jahr 1872 doch erst 1994 gestrichen.
Eine unüberschaubar große Zahl „intersexueller Varianten“
Neben seinem gesellschaftlich-politischen und justizreformerischen Engagement bemühte sich Hirschfeld nach Kräften, die Sexualwissenschaft als eigene Disziplin zu etablieren. Sein Institut gab dem Erfolg wie dem Misserfolg dieses Anliegens Ausdruck: Hier gab es einen eigenen Ort, an dem gezielt Sexualwissenschaft betrieben wurde. Doch blieb es zunächst eine Gründung ohne offizielle Anerkennung, und die Universitäten verwahrten sich hartnäckig dagegen, dieses Wissensgebiet in eigenständiger Weise in ihren Fächerkanon aufzunehmen.
Rainer Herrn gelingt es in hervorragender Weise, nicht nur diese breiteren Kontexte auszuleuchten, sondern auch Hirschfelds Beitrag zur Sexualwissenschaft zu skizzieren. Die „Zwischenstufentheorie“ gilt als dessen wichtigste Leistung. Hirschfeld war davon überzeugt, „Vollmann“ und „Vollweib“ könnten nur als idealtypische Orientierungsgrößen dienen. Dazwischen aber gäbe es eine unüberschaubar große Zahl „intersexueller Varianten“ von „männlich gearteten Frauen“ und „weiblich gearteten Männern“. Dabei war Hirschfeld ein Anhänger einer somatisch-hormonbedingten Erklärung für die Ausprägung jeweiliger Sexualtypen.