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Politische Bücher : Das Ende der Selbstzufriedenheit

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Ein Wahlkreuz, wie hier neonbeleuchtet in Hamburg, ist schon einmal ein guter Anfang. Dann aber wird es schnell komplex mit der Demokratie: Neue Sachbücher loten politische Ansätze aus. Bild: dpa

Über die Demokratie, ihre Krisen, ihre Konsequenzen und ihre Theorie – ein Streifzug durch neue Publikationen zum Thema.

          5 Min.

          Die Demokratie ist eine politische Ordnung, in der Bürgerinnen und Bürger ihre Regierung mittels Wahlen bestimmen und die Möglichkeit haben, sich einer Regierung zu entledigen, die ihnen nicht gefällt.“ So lautet die jüngst vorgelegte „Minimaldefinition“ von Demokratie, die der polnische, seit Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten lehrende Politikwissenschaftler Adam Przeworski in seinem neuen Buch „Krisen der Demokratie“ gibt. Przeworski, der vor fünfzig Jahren logische Modelle einführte, um Marxismus und Politik genauer zu bestimmen, gehört zu den in Deutschland weniger bekannten internationalen Wissenschaftlern. 1985 legte er eine Studie vor, die argwöhnisch und zugleich weitaus klüger als hiesige Beobachter den Weg der Sozialdemokratie von der Klassen- zur Massenpartei analysierte. Nun will Przeworski uns die geistige Situation der Zeit erklären. Leser profitieren durchaus davon. Man erfährt einiges darüber, wie seine Minimaldefinition von Demokratie die Ereignisse in der Weimarer Republik, in Chile 1970 bis 1973 oder in den Vereinigten Staaten unter Nixon erhellen kann. Und wer Schaubilder und Statistiken schätzt, kommt bei Przeworski auf seine Kosten. Allerdings fragt man sich, ob seine Untersuchung über die „Krisen der Demokratie“ nicht besser ohne Sätze wie diesen ausgekommen wäre: „Wir haben es nicht einfach mit einer politischen Krise zu tun; diese Krise hat tiefe ökonomische und gesellschaftliche Wurzeln. Das ist es, was mir Sorgen bereitet.“

          Christoph Möllers kennt natürlich Przeworskis Analyse von 1985. Wie überhaupt dem an der Berliner Humboldt- Universität lehrenden Rechtsphilosophen nur schwer Lücken in der Bestimmung von „Freiheitsgraden“ nachzuweisen sind. Auch Möllers sorgt sich, und auch er kommt mit einer äußerst knappen, nicht einmal als Definition ausgewiesenen Bestimmung von Demokratie aus: Das „einzige nennenswerte Kriterium für eine demokratische Ordnung“ sei die „Präsenz von organisierter Opposition“. Dass es eine solche „organisierte Opposition“ gebe, sei eine „politisch-zivilisatorische Errungenschaft – und eben keine der „politischen Philosophie“.

          Schwebende Gedankensplitter

          Möllers’ Buch über das, was gegen die antiliberalen Tendenzen unserer Zeit verteidigt werden muss, nämlich ein komplex-offener, normativen Setzungen gegenüber skeptischer, zugleich regelfreudiger Liberalismus, will die Leser bereits über die Art der Darstellung für sich gewinnen. In 349 Abschnitten wird eine „politische Mechanik“ vorgestellt, in der all das, was man sich von Liberalen wünschen kann, zu begründen versucht wird. Möllers schätzt den Sozialstaat, ist wehrhaft gegen jedwede autoritäre Versuchung, verteidigt Freiheitsrechte gegenüber dem Kapitalismus. Und zugleich fragt er die Linke, ob ihre „Abneigung gegen den Kapitalismus“ größer sei „als die Zuneigung zur Demokratie“.

          Nicht die Frage selbst, die ein Liberaler stellen muss, sondern Stil und Knappheit der Ausführungen lassen danach fragen, ob Möllers mit seinen „Freiheitsgraden“ nicht doch allzu originell sein wollte. Das Genre, mit dem er seine intellektuelle Virtuosität Seite für Seite aufblitzen lassen kann, mag sich für den Autor dadurch rechtfertigen, dass er vor fünf Jahren mit „Die Möglichkeit der Normen“ eine bis heute unbeantwortete, systematisch angelegte Provokation der hierzulande traditionell normativ argumentierenden politischen Philosophie vorgelegt hat. Doch sosehr man sich vor allem in der zunehmend chauvinistisch-deutschnationalen FDP viele Leser von Möllers’ Buch wünscht, so wenig bekommen diejenigen, die sich für Krisen der Demokratie interessieren, hier mehr als brillante, oft in der Luft schwebende Gedankensplitter, denen immer wieder die historische Erdung fehlt.

          Demokratie als gefährdete Lebensform

          Das Krisengerede greife zu kurz, findet Philip Manow, auch wenn der Titel seines neuen Buches „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ das nicht unbedingt andeutet. Folgt man dem Bremer Politikwissenschaftler, sind die Phänomene komplizierter: „Wir haben es zunächst eigentlich mit einer Krise der Repräsentation, nicht aber mit einer Krise der Demokratie zu tun.“ Und: „Der grundsätzliche Konflikt, der unsere Zeit zu charakterisieren scheint, ist auch als paradoxe Folge der alternativlosen Durchsetzung der Demokratie zu verstehen.“ Manow schreibt die Geschichte einer Entkernung. Dort, wo Demokratie gelebt werden kann, zerlegen sich die Repräsentationssysteme selbst, indem sie den Feind im Innern ausmachen. Wer Demokrat ist, bestimme jeder selbst. In dem Maße, in dem das Erfolgsmodell „Demokratie“ immer substanzloser wird – der Würzburger Rechtsphilosoph Horst Dreier spricht von einem „notorisch schwammigen Begriff“ –, darf sich jeder des Etiketts bedienen, um seine totalitären Ambitionen freundlicher aussehen zu lassen. Wer eine präzise Analyse der „Demokratie als gefährdeter Lebensform“ (Till van Rahden) lesen möchte, der muss Manow lesen.

          Ob die in Köln lehrende Queer-Theoretikerin Isabell Lorey etwas mit Przeworskis, Möllers’ und Manows Überlegungen anfangen kann, ist eine offene Frage. Ihre Untersuchung „Demokratie im Präsens“ kommt zunächst einmal ganz traditionell daher. Neulektüren von Rousseau, Derrida, Benjamin, Foucault und Antonio Negri sollen den Raum für eine „Theorie der politischen Gegenwart“ aufstoßen. Gerahmt werden die Deutungen von der klassischen Kritik an der Repräsentation, wonach die „Vielen“ oder „Multitude“ in ihrer sprichwörtlich radikalen Verschiedenheit der Einheitsvorstellung „Volk“ und den auf sie ausgerichteten Institutionen und politischen Entscheidungsprozessen entgegenstehen. Lorey will aus dieser Konstellation ausbrechen. Sie erinnert etwa an Widerstandsbewegungen in Lateinamerika und Spanien, die sich gegen demokratisch legitimierte oder genauer: nicht sanktionierte Ausbeutungsverhältnisse auflehnten und damit prekäre, doch noch mögliche Spielräume nichtinstitutionalisierter Freiheit lebten. Man wird Lorey am besten gerecht, wenn man frühere Schriften von ihr, insbesondere ihre Arbeit über die „Regierung der Prekären“ (2012), mit einbezieht. Denn sonst wirkt die hier angestrebte „Theorie“ als bloße Anleitung, es eben anders als bisher zu machen.

          Hilfe als menschliche Ressource

          Selbst wer nichts mit Loreys Versuch anfangen kann, sollte den Gedanken ernst nehmen, dass Demokratien nur dann werden überleben können, wenn sie sich mit der Notwendigkeit einer veränderten „Sorgepraxis“ auseinandersetzen. Darunter muss man sich nicht notwendig Umverteilungen vorstellen. Vielmehr – und daran knüpft die Philosophin Eva von Redecker in ihrem spannenden und klugen Buch „Revolution für das Leben“ an – geht es um die alle Menschen verbindende Erfahrung von Verletzbarkeit und Sterblichkeit als dem genuinen politischen „Ereignis“.

          Redecker analysiert verzerrte Vorstellungen von Homogenität, die fatale Dialektik von rücksichtslosem Umgang mit der Natur und mit Menschen und den misslingenden Versuchen, dafür „Ersatz“ zu schaffen – und plädiert für eine Revolution. Sie erinnert daran, dass „gegenseitige Hilfe eine menschliche Ressource“ ist, die zu neuen Vergemeinschaftungsformen führen kann. Oder soll man sagen: muss? Was „Revolution für das Leben“ von anderen Büchern mit radikalen Ansprüchen unterscheidet, sind die jargonfreie Direktheit und die konkrete, in jeder Zeile nachvollziehbare Ernsthaftigkeit. Keine befreite Klasse, kein historisches Telos – nein, anders, also besser, muss es werden.

          Nicht nur eine Laune der Geschichte

          „Revolutionen“ sieht die sogenannte „Radikale Demokratietheorie“ nicht vor, aber sie verweigert sich auch dem Versuch einer Minimaldefinition. So zumindest in dem gleichnamigen „Handbuch“, das ein Team um Dagmar Comtesse und Oliver Flügel-Martinsen herausgegeben hat. Modisch ist hieran nichts, im Gegenteil. Zumindest in der dargebotenen Form erscheint die „radikale Demokratietheorie“ als notwendiges Korrektiv von Selbstzufriedenheit. Die vorgestellten Begriffe, Entwürfe und Herleitungen bündeln sich zu drei Annahmen: Etwas, das entstanden ist, kann auch geändert werden, also auch politische Ordnungen. Zudem sind historisch rekonstruierbare Abläufe zutiefst kontingente Phänomene, trotz gegenteiliger Behauptungen also niemals notwendig gewesen. Und schließlich muss in einer Demokratie immer alles zur Disposition stehen, sonst verfehlt sie ihren Sinn. Dieses „Handbuch“ ist äußerst anregend und erzeugt gerade dann produktive Verunsicherung, wenn man auf Altbekanntes trifft.

          Nicht radikal, aber Demokratietheorie und -praxis verbindend ist Joachim Raschkes monumentales Buch „Die Erfindung der modernen Demokratie“. Eine materialreiche Synthese, die den Innovationen, Pfaden und Systemen moderner Demokratie so analytisch wie leidenschaftlich folgt. Der Streit geht also weiter – offensichtlich will bei allem Reden über Krisen niemand, dass Demokratie eine Laune der Geschichte oder zur Affäre erklärt wird.

          Bücher zur Demokratie

          Isabell Lorey: „Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart“. Suhrkamp, 217 Seiten, 20 Euro.

          Philip Manow: „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“. Suhrkamp, 215 Seiten, 16 Euro.

          Christoph Möllers: „Freiheitsgrade – Elemente einer liberalen politischen Mechanik“. Suhrkamp, 343 Seiten, 18 Euro.

          Adam Przeworski: „Krisen der Demokratie“. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp, 254 Seiten, 18 Euro.

          „Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch“, herausgegeben von Dagmar Comtesse u.a.. Suhrkamp, 832 Seiten, 30 Euro.

          Joachim Raschke: „Die Erfindung der modernen Demokratie. Innovationen, Irrwege, Konsequenzen“. Springer VS, 678 Seiten, 79,99 Euro.

          Eva von Redecker: „Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen“.S.Fischer, 320 Seiten, 23 Euro.

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