Ich hab da so’n Bauchgefühl : Woher kommt unser Hang zur Unvernunft?
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Verschwörungstheoretiker wundern sich hier gerne über die vermeintlich wehende Flagge, den Schattenwurf und nicht vorhandene Sterne: Buzz Aldrin posiert im Juli 1969 auf dem Mond. Bild: Picture Alliance
Die Grenze zwischen Vernunft und Unvernunft ist fließend: Philipp Sterzer erklärt, warum Menschen häufig irrational handeln, zur Selbsttäuschung neigen und Überzeugungen vertreten, die eindeutig falsch sind.
Warum sind viele Menschen von Dingen überzeugt, die nachweislich nicht stimmen? Wieso ignorieren vernünftige Zeitgenossen in Diskussionen immer wieder Fakten und stichhaltige Argumente? Wer das erörtern will, begibt sich auf unwegsames Gelände, denn Erklärungen haben Soziologen und Philosophen, Psychologen und Kulturtheoretiker in petto. Philipp Sterzer, von Haus aus Neurowissenschaftler und Psychiater, macht es sich in seinem Buch über die „Illusion der Vernunft“ nicht leicht mit einer Antwort. Genau genommen, gibt es die eine Antwort augenscheinlich auch nicht, weswegen er eine Reihe von Thesen, Interpretationen und Befunden anbietet.
Stellen wir uns nur einmal zwei Frauen vor, die davon überzeugt sind, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Die eine hat sich umfassend informiert, wissenschaftliche Analysen zum Thema durchgearbeitet, Fernsehdokumentationen geschaut und Vorlesungen von Spezialisten besucht. Nach der Recherche steht für sie fest: Wir tragen wahrscheinlich erheblich zur Erderwärmung bei. Die andere hält nicht viel von Statistiken, meint aber zu wissen, dass in einer vom Wunsch nach Profitmaximierung getriebenen Welt das Klima zwangsläufig leiden muss. Zynisch und menschenverachtend findet sie die Lebensweise im Westen, und ihr Bauchgefühl ist eindeutig: Wer die Globalisierung zu weit treibt, wird den Preis in Form von erhöhten Temperaturen dafür zahlen.
Das Beispiel veranschaulicht, dass selbst Leute, die gemeinsam eine wissenschaftlich weitgehend gesicherte Meinung vertreten, die sich mithin nicht über den Wahrheitsgehalt ihrer Überzeugung streiten würden, erhebliche Unterschiede beim Grad der eigenen Rationalität aufweisen können. Im Gegensatz zu den beiden Frauen, die sich gut verstehen dürften, gäbe es gewiss Auseinandersetzungen zwischen, sagen wir, einem Astrophysiker und einem Verschwörungstheoretiker, der sicher ist, dass die amerikanische Flagge, die Neil Armstrong und Buzz Aldrin 1969 im Mondboden befestigt hatten, flatterte – obwohl es dort windstill sein müsste. Scheinbar klarer Fall: Die Astronauten sind nicht ins All geflogen, sondern in einem Hollywoodstudio gewesen. Derartige Mutmaßungen sollte man nicht als Nischenphänomen abtun, denn Umfragen zufolge glaubt ungefähr die Hälfte aller Amerikaner an mindestens eine Verschwörungstheorie.
Rückschlüsse darauf, wo wir stehen und wer wir sind
Während solche Dauerzweifler darauf pochen, nicht nur nicht irrational, sondern eben ganz besonders rational zu sein, verhalten sich viele rationale Menschen im Alltag oft irrational: Man denke an den Talisman, ohne den man nicht ins Flugzeug steigt, oder den Fußballer, der sich vorm Elfmeterschuss bekreuzigt. Religiöser Glaube etwa bezieht einen nicht unerheblichen Teil seiner Wucht aus jener Nichtfalsifizierbarkeit, die ihn erscheinen lässt, als sei er über alle Zweifel erhaben.
Warum aber sind Überzeugungen oder Handlungen, die man außerhalb eines nachvollziehbaren Vernunftrahmens verorten muss, so verbreitet und kein exklusives Symptom eines Wahns? Laut Sterzer ist die Grenze zwischen Sachlichkeit und Unvernunft fließend. Es gebe nicht einmal einen klaren Unterschied zwischen „‚normalen‘ und krankhaft veränderten Prozessen im Gehirn“. Vielmehr müsse man es als eine grundlegende Eigenschaft von Menschen betrachten, sich eigene Welten zu bauen, um anschließend an einmal etablierten Anschauungen festzuhalten.
Weltbilder wiederum entstehen entweder, weil wir uns auf „Grundlage der verfügbaren Evidenz“ eine Vorstellung machen oder weil wir Ansichten von Eltern, Lehrern, Freunden oder Gurus übernehmen. Manchen Überzeugungen hänge man an, weil sie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe garantieren, weswegen Sterzer sie als „Standortmarkierungen“ bezeichnet. Sie gestatten „Rückschlüsse darauf, wo wir stehen und wer wir sind“. Ist etwa ein Amerikaner der Meinung, dass der Klimawandel menschengemacht und die Evolutionstheorie wahr ist, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit regelmäßig die Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei wählen.