
Grauzonenkunde für Fortgeschrittene
- -Aktualisiert am
Im bewegten reinen Grau schärft sich die Wahrnehmung: Detail einer Kaufhausfassade. Bild: picture alliance
Bloß kein kunterbunten Mischungen: Peter Sloterdijk holt mit gewohnt großer Geste aus zu einer philosophisch-politischen Farbenlehre.
Ein Buch, das mit der Frage „Woher das Gute?“ im „Herz der Seinsfrage“ endet, nachdem es „Grauzonenkunde“ betrieben, also die Bedeutung des Vermischten, Mittleren und Kompromisshaften für die menschliche Selbst- und Welterkenntnis herausgearbeitet und mit Aplomb in der Kunst dingfest gemacht hat – ein solches Buch von Peter Sloterdijk darf vielleicht als Schlussstein gelten für ein opulentes Lebenswerk, das letztlich die Seinsfrage umkreist. Doch geantwortet wird bei Sloterdijk nie in Deduktionen, sondern mit intellektueller Überwältigung, untermauert von stupender Belesenheit. Wenn dieses Denken in Sphären und Blasen eines nicht ist, dann graue Theorie. Eher schon handelt es sich um spektralbunte Abenteuerphilosophie. Blendwerk lautet denn auch der hartnäckige Vorwurf der Kritiker. Da ist es durchaus gewitzt, nun eine Abblendung folgen zu lassen, die ausgerechnet den Sinn für das Abblenden – das Denken des Grau – zum Lackmustest für Philosophie macht, den neben Sloterdijk selbst nur dessen Hausgötter bestehen: Platon, Hegel, Heidegger, Nietzsche und in Maßen auch Kant. Einige Größen aus Literatur und Malerei – Männer allesamt – kommen hinzu.
Cézanne war es, der den Autor mit dem Satz „Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler“ auf die Idee brachte, dieses Konditional auf die Philosophie auszudehnen. Durch allen rhetorischen Bombast hindurch lässt sich bei Sloterdijk eine kulturhistorische Makroperspektive ausmachen. Bis zum neunzehnten Jahrhundert hatte demnach das strahlende Weiß eine Sonderstellung, ein letztes Refugium der uralten Lichtmetaphysik. Dann habe auch im Bereich der Farben die große Enthierarchisierung und Säkularisierung eingesetzt. Statt einer liturgisch-allegorisch festgelegten Farbrangfolge herrschten nun die „United Colors of Everything“, eine polychrome Idylle der totalen Toleranz. Wobei nicht der Regenbogen für Sloterdijk das treffende Symbol ist, sondern ein Schmutzgrau des Vermengten.
Farbe des Denkens
Eine „graue Ethik“ habe denn auch diese einst von der Kunst mit angeführte Freiheitsbewegung begleitet. Dazu eine erwartbare Spitze: Angela Merkel, „zugleich lau und machtbesessen“, gilt Sloterdijk als vorläufiger Gipfelpunkt der sich um alle Entscheidungen drückenden Bewegung zur Mitte hin, die vermutlich in einer graugrünen „ökobürokratischen Verordnungspolitik“ enden werde: „Dreckfarbigkeit bildet das unumgängliche Resultat der postmodernen Mixophilie.“ Das Grau wäre so „die farblose Allfarbe der entfremdeten Freiheit“.
Aber diese wenig originelle Verfallserzählung, der moderne Staat als „der Große Graue“, der „die ‚absolute‘ Monarchie an Ausdehnung seiner Zuständigkeiten und Durchdringungstiefe seiner Maßnahmen um ein Vielfaches übertrifft“, ist nur das eine. Sloterdijk scheint es mit Goethes Farbenlehre zu halten, in der er „zweierlei Grau“ unterschieden sieht: neben dem „trüben“ Farbmischgrau ein Reingrau, also durch weißes Licht abgetöntes Schwarz. Und so wird das „Grau-in-Grau“ der Philosophen oder das der Künstler, „das dich berührt“, hier keineswegs diskreditiert. Im Gegenteil: Grau in Reinform gilt für Sloterdijk als Farbe des Denkens. In den Kapiteln, die assoziativ Motivgeschichte und Metaphorologie überkreuzen, ist das Buch am stärksten.