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„Die Abstiegsgesellschaft“ : Aufstand der Eingebildeten

  • -Aktualisiert am

Es geht abwärts, zumindest wirtschaftlich: Wendeltreppe im Karlsruher Schloss Gottesaue Bild: dpa

Der Ökonom und Soziologe Oliver Nachtwey deutet uns als eine polarisierte Gesellschaft, die wirtschaftlich im Abstieg und demokratisch im Aufbruch begriffen ist. Ein irritierend deutsches Buch.

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          Ob wir Deutsche nun, nach Jahrzehnten des „Wohlstands für alle“, in der „Abstiegsgesellschaft“ leben? Auch nach der Lektüre von Oliver Nachtweys anregendem langen Essay weiß man es nicht so recht. Zwar liefert das Buch zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass dem so sei: die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, der Rückbau sozialstaatlicher Sicherungen, das Anwachsen des Prekariats und das Schrumpfen der Mittelschicht - all das spricht dafür, dass sich die Zeichen der Zeit verändert haben, die Zeiten der Aufstiegsgesellschaft vorbei sind. Doch bietet der Verfasser selbst Argumente genug, um seine Generaldiagnose zu dementieren: Die sogenannten Normalbeschäftigten sind einstweilen „nominal majoritär“, weiterhin bestehen „große Zonen der sozialen Stabilität“ - und normativ ist der soziale Aufstieg durchaus lebendig, er bleibt „Sehnsuchtsobjekt, Handlungsnorm, politisches Leitbild“. Also doch alles beim Alten?

          Wohl kaum - auch wenn man den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse anders deuten und auf einen anderen begrifflichen Nenner bringen mag. Nachtwey zeichnet das Bild einer polarisierten, entlang „neuer Klassenstrukturierungen“ gespaltenen Gesellschaft, für die eher das aus der alten Bundesrepublik bekannte Etikett der „Zweidrittelgesellschaft“ passend erscheint als die suggestive Formel vom kollektiven sozialen Abstieg. Eine Diagnose, die zudem Plausibilität nur gewinnt im Lichte eines plakativen Gegenbilds von Deutschland, wie es vor Wiedervereinigung, Finanzkrise und Gerhard Schröder gewesen sei: eine „Gesellschaft der Gleichgestellten“, in der für breite Mehrheiten „Sicherheit, Status, Prestige“ gewährleistet waren.

          Auch wenn Nachtwey stets betont, dass es so nicht gemeint ist: Letztlich bietet sich dem Leser doch das recht manichäisch anmutende Panorama eines glücklicheren Gestern, das einer traurigen Gegenwart des sozialen Rückschritts, der demokratischen Regression, ja der gesellschaftlichen „Dekadenz“ gewichen ist.

          Schuld war nicht der Bossanova

          Wo fing das an und wann? Selbstverständlich optiert Nachtwey nicht für eine eindimensionale Erklärung des Aufstiegs der „Abstiegsgesellschaft“. Wohl aber hat er einen heißen Kandidaten für den politisch-ökonomischen Siegeszug des die Errungenschaften der „sozialen Moderne“ schleifenden Neoliberalismus: Schuld war nicht der Bossanova, ganz entscheidend mit von der Partie aber die „Künstlerkritik“. Mit diesem Begriff wird häufig das mit „1968“ beziehungsweise „den 68ern“ in die Welt gekommene gesellschaftliche Autonomiebegehren belegt, das der bis dahin herrschenden „Sozialkritik“ am Kapitalismus den Rang abgelaufen und die Spitze genommen habe.

          Seither stünden nicht mehr Fragen materieller Ungleichheit und der Ausbeutung in der Lohnarbeit, sondern solche der kulturellen Identität und entfremdeter Lebensführung im Mittelpunkt der Kapitalismuskritik - ein Kritikmodus, der in idealer Weise anschlussfähig gewesen sei für neoliberale Selbstbestimmungs-, Individualitäts- und Flexibilitätsversprechen. Auch Nachtwey schließt sich diesem - nach wie vor auf dünner empirischer Basis aufruhenden - Deutungsmuster an, wenn er den Postmaterialismus der neuen sozialen Bewegungen als Quelle „neoliberaler Komplizenschaft“ und „Ressource der Demontage der gesamten sozialen Moderne“ identifiziert.

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